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Das schwarze Blut

Titel: Das schwarze Blut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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den er sehnlichst gewartet hatte: eine Antwort von Jacques Reverdi.
    Als er unter den Stempeln und Vermerken der Verwaltung die gleichmäßige, nach rechts geneigte Schrift betrachtete, die den Namen »Elisabeth Bremen« bildete, spürte er, wie sich sein Herzschlag veränderte und dumpfer wurde. Mit einem knappen Gruß wandte er sich ab und eilte zurück in sein Atelier.
    Zu Hause angelangt, sperrte er die Tür ab, schloss die Vorhänge vor den großen Fenstern und setzte sich an seinen Schreibtisch. Er schaltete eine kleine Halogenleuchte ein und zog weiße Baumwollhandschuhe an, wie man sie beim Umgang mit empfindlichen Fotos benutzt. Mit einem Cutter schlitzte er den Umschlag auf und zog den Brief so vorsichtig heraus, als wäre er ein seltenes, empfindliches Insekt. Es war ein einfaches Blatt Papier, kariert, zweimal gefaltet.
    Er breitete es auf seinem Schreibtisch aus und begann mit klopfendem Herzen zu lesen.
Kanara, den 28. Februar 2003Liebe Elisabeth, ein Aufenthalt im Gefängnis ist immer eine harte Prüfung: Zusammengepferchtsein mit Verbrechern, tödliche Langeweile, Demütigungen und natürlich die Qual der Freiheitsberaubung. Abwechslungen sind ziemlich selten. Deshalb will ich Ihnen für Ihren so überschwänglichen, so mitteilsamen Brief danken. Lange habe ich nicht mehr so gelacht. Ich zitiere Sie: »Dank meiner psychologischen Sachkenntnis glaube ich erfassen zu können, was anderen entgangen, was sie vielleicht nicht einmal gestreift haben.« Und weiter:
    »Mit meinen Fragen und den Kommentaren, die ich Ihnen. gleich darauf schicken werde, kann ich Sie unterstützen, sich besser kennen und durchschauen zu lernen …«Elisabeth, ist Ihnen klar, wem Sie da schreiben? Bilden Sie sich etwa ein, ich bräuchte fremde Hilfe, um mich »kennen und durchschauen zu lernen«?
    Und vor allem: Haben Sie über die Konsequenzen Ihres Briefs nachgedacht? Sie sprechen mich an wie einen Mörder, dessen Taten erwiesen sind, und vergessen dabei eine Kleinigkeit: Ich bin nicht verurteilt. Meine Verhandlung hat noch nicht stattgefunden, und soweit ich weiß, steht der Nachweis meiner Schuld noch aus.
    Ich erinnere Sie daran, dass alle Briefe an Häftlinge geöffnet, gelesen und fotokopiert werden. Sie schreiben mit derartiger Dreistigkeit, legen eine solche Selbstsicherheit an den Tag, wenn sie sich über meine »düsteren Triebkräfte« und meine »Psychologie« auslassen, dass man meinen könnte, Sie besäßen die entscheidenden Beweise, um mich als Mörder zu überführen. Ihr unverschämter Brief stellt also eine zusätzliche Schuldvermutung mir gegenüber dar. Aber das ist gar nicht das Entscheidende. Das Entscheidende ist Ihre Arroganz. Sie schreiben mir, als gäbe es keinen Zweifel, dass ich Ihnen antworte. Erkundigen Sie sich: Ich habe seit Jahren keinerlei Interview mehr gegeben. Ich habe niemandem irgendeine Art von Erklärung gegeben. Woher nehmen Sie Ihre Gewissheiten? Wie kommen Sie auf die Idee, ich würde die Fragen einer Studentin beantworten, die meint, mich analysieren zu können? Was wissen Sie überhaupt von mir? Welches sind Ihre Informationsquellen – Zeitungen? Dokumentarfilme? Von anderen verfasste Bücher? Glauben Sie, auf solchen Wegen einen Menschen begreifen zu können?
    Was Ihre Vergleiche zwischen dem Tauchen und meinen »Triebkräften« betrifft, so nehmen Sie zur Kenntnis, dass ich allein entscheide, was für mich das Absolute ist, und dass dies alles anderen Menschen nicht zugänglich ist. Wenn Sie also Psychologin spielen wollen, so rate ich Ihnen, sich an den jugendlichen Verbrechern in Fresnes und Fleury-Mérogis zu versuchen. Spezielle Organisationen können Sie mit Häftlingen in Kontakt bringen, die auf Ihrer Augenhöhe sind und die passenden Versuchskaninchen für Ihre praktische Arbeit abgeben werden. Ich verbitte mir Briefe solcher Art und wiederhole noch einmal: Ein Aufenthalt im Gefängnis ist eine harte Prüfung und für sich schon schwierig genug, auch ohne Belästigungen einer anmaßenden Pariserin.
    Leben Sie also wohl, Elisabeth. Ich hoffe, nicht mehr von Ihnen zu hören.
Jacques ReverdiMark saß da wie vom Donner gerührt und starrte auf das karierte Papier. Es schien ihm wie eine Faust, die – mit der Kraft eines Büffels – auf seiner Nase gelandet war.
    Er war völlig groggy, ihm schwirrte der Kopf, die Gedanken prallten gegeneinander und stoben in entgegengesetzte Richtungen wieder davon; ein Feuerwerk widersprüchlicher Ideen.
    Was bedeutete dieser Brief? War er

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