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Das schwarze Blut

Titel: Das schwarze Blut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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Aufnahmen fürs Portfolio brauchte. Das war seine eigentliche Einnahmequelle. Vincent arbeitete für Agenturen oder direkt mit den Models und ließ sich dafür schwarz bezahlen. In finanzieller Hinsicht ein Riesengeschäft.
    Er hatte sich einen eigenwilligen Stil zurechtgelegt, der im Wesentlichen auf Unschärfe beruhte und momentan der absolute Renner war, die Agenturen und Zeitschriften fuhren wie verrückt darauf ab. Unter den Models kursierte sogar das Gerücht, seine Bilder brächten Glück.
    Mark wunderte sich über den enormen Erfolg. Was wie ein Scherz begonnen hatte, entpuppte sich als Goldgrube. In diesem Spätwinter des Jahres 2003 war der Koloss, den er mit Fliegerjacke, Helm in der Hand und ewig ölverschmierten Fingern kennen gelernt hatte, einer der gefragtesten Fotografen von Paris geworden. Inzwischen hatte er sogar ein eigenes Studio, im hinteren Teil einer Architektenschule in der Rue Bonaparte, im 6. Arrondissement.
    Mark zog sich ins Halbdunkel zurück. Hinter seiner Kamera stehend, so riesig, dass er beinahe die Deckenleuchten streifte, schwadronierte Vincent über die beste Art, »den äußeren Schein zu durchdringen«. Assistenten, Frisörin, Visagistin und Designer hörten andächtig zu, während ein androgynes junges Mädchen von den grellen Scheinwerfern aufgespießt wurde.
    Mit einem deutlichen Wink beendete er seinen Vortrag:
    »Schluss für heute.« Ein Assistent eilte zur Kamera und nahm den Film heraus wie eine Reliquie. Andere hasteten zu den Generatoren. Hier und dort flammten noch Blitzlichter auf, knackend, gefolgt von einem langen Pfeifen. Als der Koloss Mark erblickte, breitete er übertrieben beide Arme aus und rief:
    »Ja, wo hast du denn die ganze Zeit gesteckt?«
Mark gab keine Antwort, sondern blickte dem jungen Model nach, das im Ankleideraum verschwand.
    »Vergiss es«, sagte Vincent. »Wieder eine, die sich verzehrt, wenn sie entbrennt …«
Er deutete auf eine Serie von Polaroids auf seinem Leuchttisch:
»Ich hab was Besseres auf Lager, willst du’s sehen?«
Mark warf nicht einmal einen Blick darauf. Vincent ging in den hinteren Teil des Studios, wo gleich neben dem Entwicklungslabor sein kleiner Kühlschrank stand.
»Noch immer nicht in Stimmung, was?«
Als er wieder zurückkam, ließ er den Verschluss seiner Bierdose knacken. Er war schon leicht betrunken, wie Mark jetzt merkte. Der Fotograf kompensierte den mit seinem neuen Beruf verbundenen Mangel an Adrenalinkicks mit rauen Mengen Alkohol. Gegen Abend wurde er furchterregend. Schnaubend wie ein Ochse blies er mit glasigem Blick des einen blutunterlaufenen Auges seinem Gegenüber heißen Atem ins Gesicht. Trotzdem war er es, der sagte:
»Du schaust ja furchtbar aus. Komm, ich lad dich zum Essen ein.«
Sie landeten schließlich in einem kleinen Restaurant in der Rue Mabillon. Ein Lokal, wie Mark es liebte: brechend voll, verraucht, ohrenbetäubend laut. Ein Gebrodel menschlicher Wärme, in dem das allgemeine Getöse die Gespräche ersetzte. Vincent allerdings ließ sich vom Lärm nicht übertönen, sondern monologisierte, während er ein Bier nach dem anderen kippte, über seine Zukunftsaussichten.
»Stell dir vor«, grölte er. »Zwei meiner Mädchen sind auf Anhieb in den vierziger Tarif gerutscht! Und das nur dank meiner Fotos! Ich sag dir, diese unscharfen Bilder sind der Renner, das war die tollste Idee des Jahrhunderts. Ich hab mir gedacht, ich mach jetzt auch auf Agent. Die ersten Fotos gibt’s gratis, und von den Verträgen, die darauf zustande kommen, nehme ich einen Prozentsatz. So gut wie die Agenturen, die sowieso keinen Finger krumm machen, kann ich’s auch. Ich bin ein Zauberer! Ein Entwicklergenie!«
Das verkündete er im Tonfall des Verführers, der Zuhälter werden möchte. Mit einem Lächeln hob Mark sein Mineralwasser und sah Vincent durch das Glas hindurch an:
»Auf die Unschärfe!«
Der Koloss hob den Bierkrug:
»Auf die vierziger Tarife!«
Sie brachen in schallendes Gelächter aus. Mark aber hatte in dem Augenblick nur eines im Kopf: Hatte Elisabeth eine Chance, eine Antwort von Jacques Reverdi zu bekommen, oder nicht?
KAPITEL 16
    »Ein Brief aus Malaysia!«, verkündete der Vietnamese mit strahlendem Lächeln und schob einen Briefumschlag unter der Plexiglasscheibe hindurch. Mark griff danach und musste sich auf die Lippen beißen, um nicht zu schreien. Das Kuvert war zerknittert, mehrfach beschriftet und korrigiert, war aufgerissen und wieder zugeklebt worden – aber es war der Brief, auf

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