Das schwarze Blut
Gut und Böse macht mich schwindeln. Was immer die Wahrheit sein mag – der Spannungsbogen Ihres Schicksals ist großartig. Was ich von Ihnen erhoffe – oder sollte ich schreiben: Was ich nicht zu hoffen wage: dass Sie mir einige persönliche Erinnerungen erzählen, dass Sie mir von Ereignissen berichten – egal, welchen –, die Ihnen wichtig waren. Erfahrungen in der Tiefe. Kindheitserinnerungen. Anekdoten aus Kanara …Was immer Sie wollen – wenn nur diese Worte der Beginn eines Austausches sind. Nichts zwingt Sie, mir zu schreiben. Und ich habe keine Argumente mehr, um Sie zu überzeugen. Aber eines weiß ich gewiss: dass ich Ihnen eine Freundin sein kann, die Ihnen mit Aufmerksamkeit und Verständnis zuhört. Ich spreche nicht mehr von der Psychologiestudentin. Ich spreche ganz einfach von einer jungen Frau, die Sie bewundert.
Vergessen Sie bitte nie, dass ich bereit bin, alles zu hören. Sie sind es, der die Grenzen bestimmt, den Bereich unserer Beziehung absteckt.
Der Abgründe sind viele, in uns Menschen ebenso wie auf dem Grund der Meere.
Und alle interessieren mich.
In banger Erwartung Ihrer Nachricht, Elisabeth Schweißüberströmt legte Mark die Feder aus der Hand.
Die Hände in den Handschuhen fühlten sich buchstäblich zerschmolzen an. Die Finger um die Füllfeder verkrampft, hatte er seinen Text mehrmals abgeschrieben, jedes Mal mit derselben Erregung. Immer wieder hatte die Schrift nicht gestimmt. Jetzt aber hatte er eine Version, die ihn befriedigte, das war Elisabeth, wie sie leibte und lebte. Als er den Brief dann noch einmal überlas, fand er den Tonfall schwülstig und sentimental. Vielleicht sollte er eine Nacht darüber schlafen, bevor er ihn abschickte? Er überlegte hin und her und entschloss sich endlich, alles so zu belassen, wie es war. Es war eine Reaktion aus dem Bauch heraus, und die Spontaneität würde Reverdi nicht entgehen.
Draußen dunkelte es bereits. Es war nach siebzehn Uhr, der Tag war vorübergegangen, ohne dass Mark etwas davon mitbekommen hatte. Er hatte kein Telefon läuten hören, hatte keinen Gedanken für die Außenwelt gehabt. In der Dämmerung, die jetzt im Atelier um sich griff, schien ihm, als schlüge auch über ihm das dunkle Wasser zusammen. Ein Unbehagen, dessen Ausmaß ihm erst jetzt zu Bewusstsein kam: In diesen letzten Stunden war er tatsächlich Elisabeth gewesen.
Er brauchte unbedingt einen Kaffee. Er entschied sich für eine kräftige italienische Sorte und setzte seine kleine verchromte Fabrik in Gang. Der bittere Espressoduft umfing ihn wie ein Trost und war ein Vorgeschmack auf den heißen, konzentrierten Kaffee, der sich gleich in seinen Eingeweiden ausbreiten würde – um ihn aus seiner Hypnose zu reißen.
Er trank den ersten Kaffee aus und bereitete sofort einen weiteren zu. Mit der zweiten Tasse kehrte er an den Schreibtisch zurück und betrachtete die Zeilen von der Hand einer Frau, die nicht existierte. Jetzt bemerkte er, dass der Schweiß durch die Handschuhe gedrungen war und das Papier sich gewellt hatte. Umso besser: Auch dieses Detail würde Reverdi nicht entgehen. Er würde sich Elisabeths Aufgewühltheit vorstellen. Vielleicht sogar ihre Tränen? Auch nicht schlecht … Flüchtig fragte sich Mark, ob er auch diesen Brief parfümieren sollte? Nein. Hier war nicht mehr Verführung angesagt, hier ging es um einen Notfall.
Er klebte den Umschlag zu, zog seine Jacke an, steckte die Schlüssel ein und den Brief: Eile war geboten, wollte er das Postamt erreichen, ehe es zusperrte. Er wollte den Brief express abschicken. Dass dabei der Eindruck ungebührlicher Hast entstand, war ihm egal. Nicht minder kümmerte ihn, dass der Brief mit der roten Marke »Per Eilboten« zweifellos die Aufmerksamkeit der Wärter von Kanara erregte. Er konnte nicht noch einmal einen ganzen Monat auf eine Antwort warten – sofern eine Antwort überhaupt kam.
Er schlug nicht den Weg zur Rue Hippolyte-Lebas ein, denn er wollte Alain nicht begegnen. Stattdessen entschied er sich für die Post in der Rue Saint-Lazare, im unteren Ende des 9. Arrondissements. Beim Betreten des Postamts hielt er unwillkürlich den Atem an. Wie beim ersten Mal hatte er das Gefühl, mit der Aufgabe dieses Briefs ins Unbekannte einzutauchen. Diesmal aber begab er sich auf eine neue Stufe der Kompression, wo die dunklen Schichten eisigen Wassers begannen.
KAPITEL 18
» Gosok kuak sikit! « Schrubb fester!
Jacques Reverdi kniete in der prallen Sonne auf dem Boden, in der Hand eine
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