Das schwarze Blut
den Fingern. Die Berührung brachte sie in die Realität zurück. Sie richtete sich vorsichtig auf, um sich an der schrägen Wand des Dachzimmers nicht den Kopf anzuschlagen. Ihr Zimmer war winzig, kaum fünf Quadratmeter. Hier war nichts ihrer Größe angemessen.
Sie rieb sich die Augen, um wieder klar zu sehen. Der Rauch zog ab, die Bilder des brennenden Zimmers verblassten allmählich. Wie viele Jahre musste sie diesen Albtraum noch aushalten? Wie lange würde sie diese absurden Schuldgefühle noch mit sich herumschleppen?
Sie warf einen Blick auf den Wecker: drei Uhr morgens. Mit dem Schlaf war es vorbei. Sie legte sich wieder hin und spürte die beginnende Übelkeit.
Während nach und nach ihr Verstand zurückkehrte, reifte eine Gewissheit in ihr: Sie würde es schaffen – irgendwann würde sie Mannequin werden. Ihre beschissene Herkunft hinter sich lassen. Aus dieser Dienstmädchenkammer ausziehen. Kohle verdienen, viel Kohle, echten Wohlstand erlangen und mit dem sozialen Aufstieg auch der Vergangenheit entrinnen, diesen ewigen Albträumen.
Sie lächelte in die Dunkelheit.
Das waren die Träume der Armen: die Vorstellung, dass mit Geld alles gut würde.
Sie dachte an die letzten Castings. Ein Misserfolg nach dem anderen. Doch ihre Agentur versicherte ihr unermüdlich, sie dürfe nicht aufgeben: Ihr Aussehen habe »Potenzial«. Und warum gab man ihr dann nie eine Chance? Sie hatte noch die abfällige Bemerkung des Idioten mit der New Yorker Baseballkappe im Ohr: »Wie auch immer, dein Buch sieht aus wie ein Versandkatalog.«Sie brauchte andere Aufnahmen, modernere, trendigere Fotos. Sie hatte den Chef der Agentur darauf angesprochen, doch der weigerte sich, noch ein einziges zusätzliches Foto zu bezahlen. Was tun?
Noch immer machte ihr die Übelkeit zu schaffen, die ihren Körper schwer werden ließ, ihre Gedanken lähmte.
Sie stützte sich auf einen Ellenbogen und fasste einen Entschluss. Diese Fotos würde sie sich selber schenken. Sie würde wieder in der Cafeteria des Casino-Supermarkts arbeiten, in Cachan. Auch wenn es von früh bis spät nach Bratenfett stank, auch wenn der Chef der reinste Feldwebel war, auch wenn die Prolos sie durch die Selbstbedienungsvitrine anstarrten, als wäre sie eines der ausgestellten Gerichte – alles egal.
Sie stand auf, unter die Dachschräge geduckt.
Erst aufs Klo und sich übergeben.
Dann warten, bis es hell wird, um wieder einen Job zu finden.
KAPITEL 20
Mark schenkte dem Krieg im Irak nicht die geringste Aufmerksamkeit.
Seit dem 20. März überzogen die amerikanischen Piloten Bagdad mit Bombenteppichen – ihn ließ das vollkommen kalt. Ein Mückenstich auf dem Rücken eines Nashorns. Seine einzige Sorge war, dass der Konflikt den internationalen Postverkehr beeinträchtigen könnte. Seit zwei Wochen geduldete er sich, erging sich in Mutmaßungen, stellte sich den Weg vor, den Reverdis Brief zurücklegte, fragte sich immer wieder, ob sein Optimismus nicht das reinste Wunschdenken war. Der Mörder hatte vielleicht gar keine Lust, an Elisabeth zu schreiben …Um sich die Wartezeit zu vertreiben, studierte er wieder und wieder sein Dossier. Er behielt den Mordfall von Papan im Auge, doch die Sache hatte sich anscheinend im Sand verlaufen. Seit Kriegsbeginn kümmerte sich in Malaysia kein Mensch mehr um Reverdi. Jeden Morgen las Mark im Internet die Zeitungen von Kuala Lumpur und die Depeschen der Nachrichtenagenturen und rief bei der französischen Botschaft an, wo man ihn behandelte, als wäre er ein Verrückter, der sich in Zeit und Raum geirrt hatte: Ob er vielleicht gehört habe, dass im Irak Krieg sei? Das einzig Positive war, dass er endlich den Namen von Reverdis Anwalt herausbekommen hatte: Jimmy Wong-Fat. Doch die Anfragen, die er an ihn gerichtet hatte, blieben ohne Antwort.
Währenddessen arbeitete der Limier auf Sparflamme. Die Verkaufszahlen waren im Keller, die Reporter in einer Art Winterschlaf. In der allgemeinen Erstarrung hielt Mark nur der Rhythmus seines morgendlichen Gangs in die Rue HippolyteLebas aufrecht, wo ihn Alain mit einem Grinsen begrüßte und ihm jedes Mal einen neuen Scherz auftischte. Allerdings schien der Postbeamte erraten zu haben, dass mehr hinter der Sache steckte, dass es um etwas Persönliches ging. Allmorgendlich zog Mark mit hängenden Schultern wieder ab, und Alain bekam allmählich Mitleid mit ihm. Sogar seine Scherze wurden milder, aufmunternder.
Bis zum 29. März, einem Samstag.
An diesem Tag schob er ihm wieder
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