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Das schwarze Blut

Titel: Das schwarze Blut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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gemurmelt: »Hüte dich vor Ohnmachten.«
KAPITEL 21
    Mittwoch, 2. April 2003, in der Kantine der Strafvollzugsanstalt Kanara.
    Seit zwei Wochen durften sie die nächtlichen, abstrakten Fernsehbilder des neuen Golfkriegs sehen. Lichtblüten, Schwefelgarben, Feuerfurchen vor nächtlich grünem Hintergrund, begleitet von proirakischen Kommentaren, die sich auf die naturgemäße Solidarität zwischen Muslimen beschränkten. In der Gefängniswelt kamen die Ereignisse im Irak nur als ferner, undeutlicher Nachhall an: Krieg oder nicht, die Häftlinge scherte es wenig.
    An diesem Abend aber war es anders.
Die Bilder, die jetzt im Fernsehen gezeigt wurden, waren auf andere Weise nahe. Beunruhigend nahe.
    Ein Mann mit Mundschutz, OP-Handschuhen und einem Müllsack als Overall, putzte eifrig die Eingangshalle eines Hochhauses, bei dem es sich, wie der Kommentator erklärte, um eine Wohnanlage in Kowloon, dem kontinentalen Teil von Hongkong handelte: Über zweihundertfünfzig Familien seien hier unter Quarantäne gestellt worden.
    In der Kantine war es still, die Häftlinge starrten schweigend auf den Fernsehschirm, als bekämen sie den Anfang des Weltuntergangs zu sehen. Auch Jacques Reverdi, der hinten an der Wand stand, sah sich die Szene an und fragte sich zum tausendsten Mal, wie sich SARS zu seinem Vorteil ausnutzen ließ. Sein Kriegerinstinkt sagte ihm, dass es hier etwas zu holen gab. Aber was?
    Seit rund zwei Monaten wurde in Kanara von der neuen Krankheit gemunkelt. Die Chinesen hatten als Erste berichtet, dass Hongkong und die Provinz Guangdong im Süden Chinas von einer tödlichen Grippeepidemie heimgesucht wurde. Nach und nach erfuhr man, dass diese Grippe eine ungewöhnliche – »atypische«, schrieben die Zeitungen – Lungenentzündung sei. Im März war es offiziell: In Hongkong und Kanton breitete sich eine äußerst virulente Atemwegserkrankung unbekannter Art aus und forderte Hunderte von Toten. Auch in Südostasien war die Seuche schon ausgebrochen; es war die Rede von mehreren Todesfällen, die in den Grenzländern, von Hanoi his Singapur, zu verzeichnen seien.
    Es dauerte nicht lang, bis auch im Knast die Panik umging. Die Chinesen waren die Ersten, die isoliert wurden. Alle mieden ihre Nähe, als wären sie bereits infiziert. Dann zeigten einzelne Häftlinge die Anzeichen der Krankheit: Fieber, Schweißausbrüche, Husten … Es waren psychologische Symptome, doch sogleich wurden Schutzmasken zu Höchstpreisen gehandelt. Genauso wie traditionelle chinesische Medikamente, Amulette, Essig …Und die Nachrichten rissen nicht ab, ja sie wurden zunehmend beängstigend: Inzwischen herrschte weltweit Alarm. Die Krankheit galt als tödliche Infektion, die ihre Opfer innerhalb weniger Tage dahinraffe, eine Behandlung gebe es nicht. Um sich anzustecken, genüge schon ein mikroskopisches Schweiß- oder Speicheltröpfchen.
    Reverdi ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Auf seinen Reisen hatte er ganz anderes erlebt: Lepra und Pest waren nur zwei von vielen ansteckenden Krankheiten, denen er begegnet war. Außerdem war er ohnehin zum Untergang verurteilt. Allerdings waren die Nachrichten nicht gerade ermutigend; er wunderte sich, dass die Gefängnisdirektion solche Informationen überhaupt hereinließ. Inzwischen herrschte die einhellige Überzeugung, dass sämtliche Insassen von Kanara innerhalb weniger Wochen umkämen, wenn das SARS-Virus hier eindrang. Dann wäre das Gefängnis ein gigantischer Nährboden des Todes.
    In der Nachrichtensendung wechselte das Thema, jetzt ging es wieder um den Irakkrieg, doch niemand hörte zu. Der Lärmpegel stieg. Die Frage wurde laut, weshalb die zum Putzdienst eingeteilten Gefangenen keine Schutzmasken bekämen. Andere Stimmen meinten, man müsse eine Petition einreichen und die Unterbringung der Chinesen in einem eigenen Gebäude fordern, woraufhin die Chinesen, die sich in einer Ecke verschanzt hatten, ihrerseits zu maulen anfingen. Alles deutete auf eine bevorstehende Prügelei hin.
    Reverdi zog es vor, sich aus dem Staub zu machen. Draußen herrschte die Hektik des frühen Abends, bevor die Häftlinge bis zum nächsten Morgen wieder in ihre Zellen gesperrt wurden. Wie immer war der Hof um diese Zeit, gegen fünf Uhr nachmittags, ein wildes Durcheinander, es wurde getauscht, geschachert, gekauft, alles brüllte, regte sich auf, verlor die Nerven. Nur hier und dort war einer, der leise in ein Mobiltelefon in der hohlen Hand sprach. Ameisen auf der Jagd nach Krümeln – ein

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