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Das schwarze Blut

Titel: Das schwarze Blut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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einen Brief unter seinem Schalterfenster hindurch.
Kanara, 19. März 2003Liebe Elisabeth, ich stehe nicht in dem Ruf, zartbesaitet zu sein, doch Ihr letzter Brief hat mich berührt. Tatsächlich. Ich erkenne darin einen Anflug von Aufrichtigkeit, eine Spontaneität, die mir nahe geht. Ich stelle fest, dass Sie den erbärmlichen Psychojargon aufgegeben haben und auf jegliche Anmaßung und Überheblichkeit verzichten.
Dieser neue Ton gefällt mir, er scheint mir authentisch. Elisabeth, wenn Sie eine offene und aufrichtige Beziehung mit mir eingehen wollen, müssen Sie mich überzeugen, dass Ihre Ehrlichkeit echt ist. Nur dann kann ich vielleicht meinerseits offen zu Ihnen sein. Und Ihnen schreiben wie einer Freundin. Wenn Sie von mir etwas wollen, müssen Sie mir zuerst einiges über sich verraten. Vertrauliches, das Sie sonst keinem erzählen. Ich bin ein Taucher, ein Freitaucher, der keine Hilfsmittel benutzt. Für mich kommt eine Beziehung – auch eine briefliche, auch aus diesem Gefängnis heraus – nur infrage, wenn sie in die Tiefe geht. Auf dem Grund Ihres Wesens werde ich die Wahrheit unseres Austausches erkennen. Wenn ich unter Ihre Haut vorstoße, werde ich wissen, ob ich Ihnen zuhören, mich Ihnen nähern kann – oder nicht.
Sind Sie bereit, sich mir zu öffnen? Ich erwarte Ihre Antwort. Unsere Zukunft liegt in Ihren Händen. Sie bestimmen, welchen Verlauf unser Tauchgang nehmen wird. Bis bald,Jacques Reverdi Wie beim ersten Mal war Mark wie vom Donner gerührt.
    Diesmal allerdings war seine Verblüffung ganz anderer Art: Er konnte es kaum fassen, dass er diesmal ins Schwarze getroffen hatte. Selbst in seinen kühnsten Träumen hätte er sich keine derartige Kehrtwendung in so kurzer Zeit ausgemalt. War das eine Falle? Aber was für eine Falle mochte das sein? Und was hoffte Reverdi darin zu fangen?
    Nein. Die Wirkung war allein dem neuen Tonfall zu verdanken, den er gefunden hatte, nichts anderem. Das Raubtier hatte die Aufrichtigkeit des zweiten Briefs gewittert. Dazu kamen Langeweile, Einsamkeit, die Grausamkeit des Gefängnislebens. Unter diesen Umständen dürfte sogar ein Reverdi halbwegs empfänglich für Verlockungen von außen sein.
    Ohne seine Handschuhe auszuziehen, griff Mark nach einem Filzstift und dem Block, den er für Entwürfe benutzte. Seine Antwort ließ sich in einem Wort zusammenfassen: Selbstverständlich. Er würde alle Vertraulichkeiten liefern, die der Mörder verlangte.
    Während er schrieb, zitterte er innerlich vor Aufregung.
    Wenn er so weitermachte und ihm kein Fehler unterlief, bekäme er früher oder später echte Geständnisse, so viel stand fest. An der Schwelle zum Tod würde der Mörder ihm alles sagen. Und vielleicht würde dann er, Mark, den kriminellen Trieb verstehen. Würde den schwarzen Funken zu sehen bekommen.
    Innerhalb von dreißig Minuten hatte er seinen Text fertig. Das Abschreiben mit Elisabeths Handschrift dauerte eine weitere halbe Stunde. In beiden Disziplinen, der Ausarbeitung des Wortlauts und der anschließenden Reinschrift, machte er Fortschritte … Wie von den beiden ersten Briefen zog er sich auch diesmal mit seinem Faxgerät eine Kopie. Fürs Privatarchiv. Dann schaute er auf die Uhr: elf Uhr dreißig.
    Wieder stürmte er aus dem Haus und rannte in die Rue SaintLazare. Samstags schloss das Postamt um zwölf Uhr. Unterwegs kam ihm eine beunruhigende Passage aus Reverdis Brief in den Sinn, die seine Begeisterung ein wenig trübte:
    »Wenn ich unter Ihre Haut vorstoße, werde ich wissen, ob ich Ihnen zuhören, mich Ihnen nähern kann – oder nicht« Solche Worte von einem normalen Menschen zu hören ist befremdlich. Aber wenn sie von einem Mörder stammen, der es fertig bringt, siebenundzwanzig Mal sein Messer in den Körper einer Frau zu rammen, tut man besser daran, die Formulierung wörtlich zu nehmen …Mark riss sich zusammen. Das Ungeheuer saß schließlich hinter Schloss und Riegel. In wenigen Monaten würde es hingerichtet. Bis dahin musste Mark taktieren und ihm sein Geheimnis entreißen.
    Als er das Postamt betrat, war ihm wieder leichter ums Herz. Und als er den Brief mit den Worten »Express, bitte« über den Schalter schob, verspürte er sogar einen leisen Taumel. Er stieß in einen neuen Grenzbereich vor. Ein neuer Druck, neue Risiken …»Wie bitte?«, fragte die Postbeamtin. »Haben Sie was gesagt?«
Mark schüttelte den Kopf, obwohl seine Lippen ihn verraten hatten. Bei dem Gedanken an den bevorstehenden Tauchgang hatte er

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