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Das schwarze Blut

Titel: Das schwarze Blut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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bisschen Hoffnung, ein bisschen Raum … Reverdi ging die Kantinenmauer entlang bis zum Küchenhof, der von so scheußlichen Ausdünstungen erfüllt war, dass sich niemand dorthin wagte. Um diese Zeit war er ein rötliches Viereck, das an ein Becken mit glühenden Kohlen erinnerte. Durch die Mitte rann ein Bach: fettige Abwässer, in denen allerlei feste Brocken mitschwammen. Jacques begann auf und ab zu gehen; er hatte den Eindruck, in schlammigem Schmutz zu waten.
Er verdrängte den Gedanken an SARS und ging zu seinem Lieblingsthema über: Elisabeth. Er wartete auf ihren Brief. Und diese Ungeduld ging ihm zunehmend auf die Nerven. Das Spielchen, das er sich für die Studentin ausdachte, nahm ihn viel zu sehr in Anspruch. Ein Jäger braucht Kaltblütigkeit und innere Ruhe, um zielsicher zuschlagen zu können.
Er hingegen zählte die Tage und rang innerlich die Hände. Donnerstag, 10. April, Besuchsraum der Strafvollzugsanstalt. »Ich habe gute Neuigkeiten.«
Reverdi seufzte. »Du hast immer gute Neuigkeiten.«
Wong-Fat ließ sich nicht irritieren: »Wir haben schon wieder einen Punkt gemacht. Wir …«
»Du weißt, was mich interessiert.«
Jimmy kniff die Lippen zusammen. In seiner Miene las Jacques eine Enttäuschung, die ihn amüsierte. Der Chinese war eifersüchtig.
»Die Post meinen Sie. Ich hab sie mitgebracht. Ich …«
Mit einer Handbewegung forderte Jacques ihn auf, die Briefe herauszurücken. Der Anwalt leerte sie auf den Tisch. Ihre Zahl nahm ab, man schrieb ihm seltener – eine Folge des Kriegs. Und von SARS. Vielleicht auch einfach von Abnutzung: In Europa war er schon fast wieder vergessen.
Er durchsuchte sie rasch, bis seine Hand sich auf einen Brief legte. Er hatte ihre Schrift erkannt. In dem Moment spürte er den Anblick der aufgeschlitzten Kanten wie einen körperlichen Schmerz. Was das hieß, war klar: Es war ein Zeichen, dass er die Verletzung seiner Intimität nicht ertrug – so weit war es schon.
Er nahm Elisabeths Brief an sich und schob die anderen beiseite:
»Wir verlegen unser Gespräch auf morgen.«
»Jacques, in ein paar Wochen ist Ihr Prozess …«
Reverdi rüttelte wild an den Ketten, um den Wärter herbeizurufen und sich abführen zu lassen.
»Morgen«, wiederholte er. »Dann werde ich dich um einen Gefallen bitten.«
»Was für einen Gefallen?«
»Morgen.«Abenddämmerung, schon wieder. Unmöglich, den gewohnten Schlupfwinkel aufzusuchen.
    Um diese Zeit waren die Duschen besetzt. An den »ruhigen Abenden« zogen sich die Homos zu ihren erotischen Spielchen dorthin zurück. An den »Raman-Abenden« wagte sich niemand auch nur in die Nähe.
    Auch in den Küchenhof konnte er nicht: Umwabert vom Gestank des Gefängnisfraßes seinen Brief zu lesen, das kam nicht infrage. Er beschloss, in seine Zelle zurückzukehren, selbst wenn das bedeutete, dass er bis zum nächsten Morgen nicht mehr herauskonnte und auch auf das Abendessen verzichten musste.
    Reverdi umrundete die Zentralgebäude, ging an Block C entlang und hielt den Atem an, bevor er sich Block D mit der »Klagemauer«, wie er das bei sich nannte, näherte: einer Art Brüstung, die auf unbebautes Gelände hinausging; unten prostituierten sich die Thai-Travestiten. Die meisten Häftlinge hatten nicht das Geld, um sich eine echte Nummer leisten zu können, und deswegen standen sie hier hinter dem Mäuerchen, mit starrem Blick und weichen Knien, und wichsten, was das Zeug hielt, während die Transen unten ihre Peepshow veranstalteten. Reverdi hätte sie am liebsten an Ort und Stelle mit einem Flammenwerfer geröstet, nur um der Menschheit einen Funken Würde zurückzugeben.
    In Block B angelangt, in dem seine Zelle war, stieg er die Treppe hinauf und bog in den schmalen Gang ein, der rund um den Innenhof führte. Unter ihm war ein großes Netz gespannt, um Selbstmordversuche zu verhindern. In den Maschen fingen sich immer wieder Vögel, die qualvoll darin umkamen. Er ging die Galerie entlang. Musikfetzen vermengten sich – harte Raps zwischen süßlichen Liebesliedern – und hallten von den Mauern wider. In den offenen Zellentüren hatten sich Gruppen von Häftlingen zusammengefunden, die würfelten, schacherten – auch hier wieder –, endlos miteinander tuschelten. Der Schweiß so vieler Männer schwoll zu einem stark riechenden Dunst an, einer klebrigen Feuchtigkeit, die sich an die nackten Fußsohlen heftete.
    Jacques kam zu seiner Zelle und warf gleich die Tür hinter sich ins Schloss, obwohl er wusste, dass sie bis zum Morgen

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