Das schwarze Blut
einstellt, ist er nicht mehr auf die Außenwelt angewiesen. Aber da ist noch etwas anderes, etwas Tieferes. Wissen Sie, was im Körper geschieht, wenn man die Luft anhält?«
Mark fühlte die starren Blicke der vom amok Befallenen auf sich. »Nun, der Sauerstoffgehalt im Blut sinkt ab, es …«
»Es besteht Lebensgefahr. Anders als man gemeinhin annimmt, empfindet der Freitaucher durchaus keinen Zustand innerer Ruhe und Erfüllung, sondern steht unter starker Anspannung, unter äußerstem Stress. Der Organismus konzentriert sich ganz auf sich. Die Blutgefäße in den Extremitäten verengen sich reflexartig, damit die letzten Sauerstoffreserven in die lebenswichtigen Organe gelangen – das Herz, die Lunge und das Gehirn, wo ein Blutandrang entsteht. Man kann sich keine größere Konzentration vorstellen: Der Körper zieht sich buchstäblich zu einem harten Kern rund um seinen Selbsterhaltungstrieb zusammen. Genau das ist es, was Reverdi bezweckt: Er bildet einen Block gegen seine inneren Dämonen … Meines Erachtens kann man dieses Phänomen auch auf seine Morde übertragen.«
Mark fuhr zusammen. »Wie das?«, fragte er.
»Denken Sie daran, was er mit der jungen Dänin gemacht hat. Er hat das arme Mädchen ausbluten lassen. Ich glaube, dass der Schauplatz seines Verbrechens in diesem Moment für ihn zu einer Art Erweiterung seiner Person wird. Er entfaltet sein Ich in diesem Raum und löst einen Blutandrang aus, um sich zu schützen. In gewissem Sinn ist es dasselbe, was während des Atemstillstands passiert, wenn sich das Blut im Herzen und in der Lunge, also im Mittelpunkt des Körpers konzentriert.«
»Wieso sind Sie sich da so sicher?«
»Ich möchte Ihnen eine andere Frage stellen«, sagte sie, statt ihm zu antworten. »Erinnern Sie sich an seine letzten Worte, während der Videoaufnahme, bevor er die Luft anhielt?«
»Versteck dich, schnell, Papa kommt«, antwortete Mark, ohne zu zögern.
Sie nickte nachdenklich. »Das kann auf ein seelisches Trauma hindeuten. Es kann auch eine Halluzination sein – ich bin mir nicht sicher. Aber eines ist gewiss. Sein Abwehrverhalten beginnt mit der symbolischen Ankunft des Vaters. Die Person des Vaters stellt die größte Gefahr für ihn dar. Er fürchtet, sie könnte Besitz von ihm ergreifen. Er hat Angst, sein Vater zu werden.«
Die Psychiaterin setzte wesentliche Elemente zu einem stimmigen Bild zusammen. Dennoch konnte Mark ihr nicht ganz zustimmen.
»Soweit ich weiß«, entgegnete er, »hat Jacques Reverdi seinen Vater nicht gekannt. Weshalb sollte er ihn fürchten? Oder seinen Einfluss?«
»Genau das meine ich: Worauf es ankommt, ist seine Abwesenheit. Dann kann die Figur des Vaters alle Formen, alle Persönlichkeiten annehmen. Diese vielgestaltige Erscheinung ist die Ursache von Jacks Schizophrenie. Er hat Angst, sein Vater zu sein, das heißt irgendjemand, irgendetwas. Wenn die Krise eintritt, droht seine Identität zu zerfallen, und er steht vor einem bodenlosen Abgrund.«
Mark begriff jetzt, worauf die Ärztin hinauswollte:
»Glauben Sie, dass diese potenziellen Persönlichkeiten zerstörerisch sein könnten?«
»Sie sind immer zerstörerisch.«
»Könnten sie kriminell sein?«
Die Psychiaterin rückte ein wenig von ihm ab, um ihn besser ansehen zu können.
»Jacques Reverdi«, sagte sie, »ist überzeugt, dass sein Vater ein Verbrecher war. Wenn er sich gegen diese Gewissheit nicht mehr wehren kann, wenn das Anhalten des Atems kein Schutz mehr ist, dann tötet er. Dann ergreift sein Vater Besitz von ihm. Er breitet sich in seinem ›Ich‹ aus wie ein Gift im Blut.«
»Das verstehe ich jetzt nicht. Vorhin sagten Sie doch, die Morde seien im Gegenteil eine Art Schutzritual.«
»Sie sind beides, mon cher … « , antwortete sie in spöttischem Ton. »Jack vergießt das Blut seines Opfers, um seinen Panzer zu verstärken, wie ein Kind, das eine Sandburg gegen das Meer baut. Aber es ist zu spät: Die Welle kommt, und sie reißt alles mit. Sein Verbrechen ist der Beweis dafür, dass ›Papa‹ gekommen ist … Jeder Mord ist eine Mischung aus panischer Angst und Resignation, aus Auflehnung und Schicksalsergebenheit.«
Mark verfiel ins Grübeln. Diese Interpretation deckte sich mit seinen eigenen, bislang recht vagen Vermutungen. In diesem Augenblick erkannte er noch etwas, eine Tatsache, die ins Auge sprang, wenn man Reverdis Werdegang verfolgte. Bis zum Alter von vierzehn Jahren hatte ihn seine Mutter beschützt. Nach ihrem Selbstmord war der junge Mann den Angriffen
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