Das schwarze Blut
auszugleichen, eine erbarmungslose Umklammerung, die jeden Muskel, jedes Organ zusammenpresste. In fünfundzwanzig Metern Tiefe schrumpften die Lungenflügel zu zwei geballten Fäusten, in denen die Luft extrem verdichtet war.
Dreißig Meter. In dem Maß, wie das Tageslicht schwand, gewann das Blau an Intensität, an Festigkeit. Dennoch empfand er keine Angst. Keinerlei Unbehagen. Im Gegenteil: Der Druck des Wassers verteilte den letzten Sauerstoff im gesamten Blutkreislauf. Der Körper war versorgt, gesättigt, im Gleichgewicht. Arterien und Venen bildeten ein Blasinstrument, auf dem das Meer durch die Membran der Haut spielte wie ein Oboist, der die Zirkularatmung beherrscht. Der Körper funktionierte wie ein geschlossener Kreislauf, vollkommen autonom.
Fünfzig Meter. Indigoblau. Diese Marke zu erreichen hatte nur Sekunden gedauert; von nun an zählt die Zeit nicht mehr. Man glaubt immer, der Taucher, der auf Atemgeräte verzichtet, sei unter enormem Zeitdruck und ständig am Rand der Panik. Weit gefehlt: Der Freitaucher steht außerhalb der Zeit.
Sechzig Meter. Sein Herz schlägt jetzt zwanzig Mal pro Minute gegenüber siebzig Pulsschlägen zu normalen Zeiten. Die Bewegungen maximal einschränken … den Sauerstoffverbrauch noch weiter reduzieren … ganz aus sich heraus leben … In vollkommener Autarkie in der dunklen Kälte …Er lauscht dem Meer, mit dem er ganz eins ist. Auch dies ein Klischee: die Vorstellung, im Meer sei es vollkommen still. Im Gegenteil – in dieser Tiefe verstärkt die grenzenlose Masse des Wassers alle Töne derart, dass sie sich in feste, durchscheinende Körper mit gläsernen Kanten verwandeln.
Achtzig Meter. Der Bauch des Meeres. Am Ende der Strecke wartet der Rekord. Tief unten in der Finsternis hängt an einem Tau die Plakette, die er pflücken muss. Das ist die Grenzmarke. Die Schwelle, hinter der der verbotene Bereich beginnt. Hier muss er den Schlitten loslassen und den Fallschirm öffnen, um an die Oberfläche zurückzukehren. Aber er will nicht nur einen neuen Rekord aufstellen, er will noch etwas anderes erreichen.
Hundert Meter. Endlich die totale Finsternis. Die gewaltigen Räume des Nichts. In diesem Augenblick befindet er sich im Zustand vollkommener Selbstbeherrschung. Weder hat er die Orientierung verloren, noch droht ihm die Auflösung. Ganz im Gegenteil: Er hat sich gefunden. In dieser einzigartigen Einsamkeit ist es Zeit, die Tür zu öffnen.
Die Tür zur anderen Seite des Meeres.
Er begeht nicht den Fehler, in der Finsternis ringsum zu suchen. Dort ist die Tür nicht. Nein, der Blick muss sich nach innen kehren, in die eigene Seele. Das ist das Geheimnis desTauchers: Die letzte Tür, die ins Licht führt, befindet sich auf dem tiefsten Grund des Bewusstseins …Auf einmal riss er den Mund auf, um die sonnendurchflutete Luft einzuatmen. Um ein Haar wäre er ohnmächtig geworden, so ungestüm und real waren seine Erinnerungen. Er zwinkerte und nahm verdutzt seine Umgebung zur Kenntnis. Die karge, gelbliche Ebene, die sie hier »das Stadion« nannten. Den Stacheldraht, die Wachtürme, die grauen Holzbänke, die als Tribünen dienten. Und diese Schwachköpfe, die noch immer hinter dem Ball herliefen.
Er lächelte. Ausnahmsweise betrachtete er sie mit geradezu zärtlichem Blick. Er liebte sie. Alle, ohne Ausnahme. Seine Erinnerungen hatten ihn mit der Gegenwart versöhnt.
Und allem voran war es die Gegenwart einer Person, die ihn wie ein goldenes Licht umfing.
Elisabeth.
Seitdem er ihre Nachricht erhalten hatte, war er wie verklärt.
Er erkannte die geheime Folgerichtigkeit seines Schicksals. Wenige Wochen vor seinem Tod, am Ende seines Lebenswegs, war er endlich der Liebe begegnet. Diese Frau war anders. Sie hatte etwas Unschuldiges und zugleich eine sehr dunkle Seite, die ihr erlaubte, ihn zu verstehen. Und ihm zu folgen, ohne Furcht und ohne Vorurteil.
Instinktiv ahnte er, dass er sie lieben konnte, so, wie sie war. Dass er sie nicht – wie die anderen – der Läuterung unterziehen musste. Sie nahm ihre dunkle Seite an. Sie ahnte bereits die Farbe der Lüge. Deshalb war sie seiner würdig. Und sie würde sein Werk begreifen.
Binnen weniger Stunden war es ihr gelungen, die Bilder des letzten Heiligtums zu sehen – des Leichnams von Pernille Mosensen. Sie hatte erraten, was geschehen war. Sie begann die Anfänge des Rituals zu erkennen. Das Ziel, das er mit seiner geduldigen Arbeit zu erreichen suchte. Er bezweifelte nicht mehr, dass es ihr gelingen würde,
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