Das schwarze Blut
nebeneinander Platz. Die Patienten gafften, wagten sich aber nicht näher, sondern bildeten einen großen Kreis um sie.
»Seit meiner Promotion«, fuhr die Psychiaterin fort, »befasse ich mich mit dem Phänomen des amok. Im Westen hat die Psychiatrie schon vor langer Zeit die Begriffe ›Besessenheit‹ und ›Zauberei‹ durch Diagnosen wie ›Hysterie‹ oder ›Schizophrenie‹ ersetzt. In Malaysia liegen die Dinge nicht so einfach. Zwar sind wir uns alle einig, dass amok ein Wahnzustand im psychiatrischen Sinn des Wortes ist. Aber wir glauben auch, dass dabei Dämonen die Finger im Spiel haben.«
Sie machte eine weit ausholende Geste:
»Für uns verbindet sich die Psychiatrie immer mit dem Glauben. Im Übrigen steht keineswegs fest, dass der Volksglaube weniger wirksam sei als die streng klinische Sicht. Wenn ein Patient überzeugt ist, er sei von Dämonen besessen, dann existieren sie in gewissem Sinn ja tatsächlich, nicht? Die Vernunft ist nur ein Instrument der Erkenntnis. Alles ist wahr, weil alles Wahrnehmung ist …«
Mark konnte ihr nicht so recht folgen; er ließ sich von dieser sanften Stimme, diesem gleich bleibenden Lächeln einlullen und hätte darüber beinahe Reverdi vergessen. Die aufdringlichen Blicke der Patienten holten ihn zurück in die Wirklichkeit.
»War er hier … eingesperrt?«, fragte er.
»Jacques? Die letzten Tage, ja.«
Sie sprach seinen Vornamen englisch aus: »Jack.« »Was meinen Sie: War auch er vom amok befallen?«
»Zweifellos beging er seine Morde im Zustand einer Krise. Allerdings glaube ich, dass er zu keinem Zeitpunkt die Kontrolle über sich verloren hat. Er ist nicht geisteskrank.«
»Er wusste, was er tat?«
»Ich würde eher sagen, dass eine seiner Persönlichkeiten die Verbrechen beging.«
»Ist er schizophren?«
Sie hob beide Hände. »Moment, nicht so schnell! Wir haben alle mehrere Persönlichkeiten, die mehr oder minder ausgeprägt sind.«
»Kann man denn sagen, dass der Reverdi, der Pernille Mosensen getötet hat, derselbe Mensch ist wie der Weltmeister im Freitauchen?«
Sie lehnte sich zurück und ließ den Blick gleichgültig über die noch immer reglos wartenden Patienten schweifen.
»Das menschliche Bewusstsein«, sagte sie, »besteht nicht aus einem einheitlichen Kern. Es gleicht eher einem Rad. Einem Spielfeld von Möglichkeiten. Einem Roulett, das sich dreht und von Zeit zu Zeit bei einer bestimmten Zahl stehen bleibt. Mord ist eine der Zahlen von Jack.«
Mark beschloss, mit offenen Karten zu spielen, und gestand, dass er die Videokassette gesehen hatte. Der Psychiaterin verging das Lächeln.
»Von wem haben Sie die?«
Er gab keine Antwort.
»Alang, nicht wahr? Unglaublich – unser bester Experte auf dem Gebiet der forensischen Psychopathologie und erlaubt sich immer wieder derartige Entgleisungen …« Sie warf ihm einen Blick von der Seite zu. »Und – was schließen Sie daraus?« »Ich? Wieso denn ich?«
»Ja, Sie: Was halten Sie von dem Auftritt?«
Es war die ideale Gelegenheit, um seine Hypothesen zu überprüfen.
»Ich glaube«, begann Mark, »dass Reverdi die Luft anhält, um sich zu schützen.«
»Richtig, aber wovor?«
»Vor der Welt. Aber auch vor sich selbst. Vor seinem Wahnsinn.«
Die Ärztin lächelte wieder:
»Sie haben Recht. Den Atem anzuhalten ist für ihn eine Panzerung, mit der er die ihn bedrängenden Persönlichkeiten abwehrt. Seine Schizophrenie.«
»Jetzt sprechen Sie selber von Schizophrenie.«
»Ich wollte Sie nur vor voreiligen Schlussfolgerungen bewahren und Ihre Ansichten ein bisschen relativieren. Aber es steht außer Zweifel, dass Jack von verschiedenen Persönlichkeiten gequält wird. Sie wollen den Platz des Reverdi einnehmen, der er unbedingt sein möchte. Den offiziellen Reverdi. Sie kennen seine Geschichte, nicht wahr?«
»Auswendig.«
»Es ist die Geschichte eines willensstarken und starrköpfigen Mannes, der stets alles erreicht hat, was er wollte, eines Felsblocks. Jack ist immer einen absolut geraden Weg gegangen, an dem er umso sturer festhielt, je mehr er sich von der Selbstauflösung bedroht fühlte.«
Mark hielt diese Diagnose für sehr überzeugend. In diesem Licht betrachtet, wurde ihm manches klarer.
»Lassen Sie uns jetzt über Jack den Taucher sprechen«, fuhr sie fort. »Ich habe mich eingehend mit dieser Disziplin befasst, weil ich verstehen wollte, weshalb Jack überzeugt ist, sich schützen zu können, wenn er den Atem anhält. Da ist zum einen die körperliche Unabhängigkeit: Wenn er das Atmen
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