Das schwarze Buch der Geheimnisse (German Edition)
wollte er zu dem Thema nicht sagen.
Unzählige Male hat Joe diesen Satz mit dem Lauf der Dinge gesagt. Ich fragte mich dann immer: Wollte er andeuten, dasser den Lauf der Dinge kannte? Aber auch wenn er nichts ändern wollte, wie er immer wieder beteuerte, so hatte allein seine Gegenwart schon eine merkliche Auswirkung auf die Dorfbewohner. Immerhin war Joe als Fremder nach Pagus Parvus gekommen, hatte seinen Laden eröffnet und schon in wenigen Tagen die Achtung und Bewunderung der Menschen seiner Umgebung gewonnen. Wir alle wurden von ihm angezogen wie die Motten, die nachts geräuschvoll gegen die erleuchteten Fenster flatterten. Manche Menschen machen mit lauter Stimme und großen Gesten auf sich aufmerksam, aber das hatte Joe nicht nötig. Seine Stimme war leise, er machte keine überflüssigen Worte. Und doch konnte man spüren, wenn er in der Nähe war.
Wie Joe zu Geld kam, war mir ein vollkommenes Rätsel. Überhaupt, was war das für ein seltsames Geschäft, Geld zu verschenken? Oder wie sollte man seine Tätigkeit sonst beschreiben? Die Schaufensterauslage nahm jeden Tag zu, doch obwohl er für viele Sachen bezahlte, sah ich ihn selten etwas verkaufen.
Und dann das Schwarze Buch der Geheimnisse. Die Einwohner von Pagus Parvus waren schnell bereit, Joes Angebot zu nutzen, und um Mitternacht verteilte er Beutel voller Münzen an alle und jeden. Es gab viele Geheimnisse in Pagus Parvus. Tagsüber schien der Ort nichts anderes, als was er war: ein kleines Bergdorf. Erst in den Stunden der Dunkelheit war zu erkennen, dass nicht alles zum Besten stand. In meinen schlaflosen Nächten, wenn ich über die Häuser am Hang blickte, ahnte ich, dass jede brennende Lampe, jede flackernde Kerzehinter den Fenstern eine Geschichte erzählte. Schatten bewegten sich hinter den Gardinen, Silhouetten, die unruhig im Dunkeln auf und ab gingen und vor Verzweiflung und Schuldgefühlen die Fäuste an die Stirnen pressten.
Joe hörte sich aufmerksam alle Nöte an und fällte nie ein Urteil – ungeachtet des Geständnisses. Ich wusste, dass er gut dafür zahlte, aber ich wusste nicht, nach welchen Maßstäben er den Wert eines Geheimnisses berechnete. Einmal fragte ich ihn, woher er sein Geld habe, da antwortete er nur: »Erbschaft«, und gab zu verstehen, dass die Unterhaltung damit beendet sei.
Eines Nachts kam Elias Sourdough aus der Bäckerei zu uns herauf und gestand, dass er das Mehl mit Alaun und Kreide gestreckt habe. Das war Joe vier Shilling wert gewesen. Als Lily Weaver kam und erzählte, sie habe ihre Kunden betrogen, indem sie ein zu kurzes Maß zum Stoffabschneiden verwendet habe, gab er ihr sieben. Sogar Polly stattete uns einen Besuch ab. Sie schlich sich eines Nachts aus Ratchets Haus, um zu gestehen, dass sie sein Besteck gestohlen habe. Joe und ich wussten es schon. Vor kaum zwei Tagen hatte Polly nämlich ein Messer und eine Gabel bei uns verpfändet, und erst nachdem sie wieder weg war, sahen wir auf jedem Teil Jeremiahs Initialen. Ich konnte nicht anders, als Pollys Dreistigkeit zu bewundern. Sie wusste, dass wir das Besteck nicht ins Fenster legen konnten (aber ich hätte zu gern Jeremiahs Gesicht gesehen, wenn er sein eigenes Besteck in unserem Schaufenster entdeckt hätte). Joe benutzte es nun selber.
Jeden Abend schürte Joe das Feuer und stellte die Schnapsflasche und zwei Gläser auf den Kaminsims, ich holte dasSchwarze Buch aus dem Versteck und füllte das Tintenfass. Dann setzten wir uns und warteten, er in seinem Sessel neben dem Feuer und ich auf meinem Platz am Tisch. Es verging kaum eine Nacht, ohne dass jemand beim zwölften Glockenschlag an die Tür klopfte. Dann spielte ich meine Rolle: Während die Dorfleute ihre Geständnisse machten, saß ich unauffällig im Hintergrund und schrieb alles auf, Wort für Wort.
Manchmal war es schwer, nicht aufzuschreien bei dem, was ich zu hören bekam. Ich warf oft einen verstohlenen Blick zu Joe hinüber, der am Feuer saß, die Ellbogen auf die Armlehnen gestützt, die Fingerspitzen leicht aneinandergelegt. Sein Gesicht war leer wie eine weiße Seite, gleichgültig, was gesprochen wurde. Nur ab und zu krümmte er für den Bruchteil einer Sekunde die Zeigefinger, beschrieb mit ihnen Kreise in der Luft und legte sie dann wieder locker zu den anderen. Aber kein einziges Mal veränderte sich sein Gesichtsausdruck.
Kapitel 17
Horatio Cleaver
D er ist ein Mörder«, flüsterte der älteste Sourdough-Junge. »Macht sich nachts mit seinem Hackbeil auf die
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