Das schwarze Buch der Geheimnisse (German Edition)
Ich begriff, dass ich dieses ganze Geschäft bis jetzt für eine Art Spielgehalten hatte, das Joe und ich mit den Dorfbewohnern gespielt hatten – wir alle gegen Jeremiah Ratchet. Aber es war längst kein Spiel mehr. Es war todernst. Ich hatte ihre Geständnisse aufgeschrieben, und nun war es meine Pflicht, sie in Sicherheit zu bringen.
Ich stürmte also aus der Tür, schlitterte und rutschte die Straße hinunter, ich verwünschte sowohl Jeremiah als auch Joe und wurde von tiefen Zweifeln gequält. Vielleicht lag Job Wright gar nicht falsch. Vielleicht benutzte Joe das ganze Dorf, und ich war zu blind gewesen, es zu bemerken? Ich hatte mich in meiner Sehnsucht nach einem richtigen Vater so selbstsüchtig an dieses neue Leben geklammert, dass mir gar nicht aufgefallen war, was vor meinen Augen passierte. War das nun die Strafe dafür, dass ich angenommen hatte, was mir nicht zustand? Trotzdem ergab das alles keinen Sinn.
»Es geht nicht um Geld«, sagte ich in die Nacht. »Es muss um etwas anderes gehen.«
Jeremiah war schon im Haus, hatte aber in seiner Eile die Tür nicht ganz geschlossen. Ich schlich mich in die Eingangsdiele und folgte den nassen Fußspuren bis in Jeremiahs Arbeitszimmer. Unmittelbar hinter der Tür kauerte ich mich auf den Boden und sah zu, wie er sich in einem Sessel niederließ. Irgendwo in der Nähe stand Fleischpastete, ihr Duft ließ mir das Wasser im Mund zusammenlaufen.
Einen Plan hatte ich noch nicht. Mein Herz klopfte so laut, dass ich befürchtete, es könnte mich verraten. Ich sah Jeremiahs Kopf, ich hörte, wie er Seiten umblätterte. Bald würde es zu spät sein, und er würde alles wissen. Dann hörte ich, wie erdas Buch zuklappte, und ich sah eine lose Seite zu Boden flattern. Er beugte sich vor und hob sie auf. Er murmelte etwas, dann stöhnte er und sank in seinem Sessel zurück. Jetzt konnte ich nur noch sein lautes, keuchendes Atmen hören.
Ich weiß nicht mehr, wie lange ich wartete, bevor ich auf Zehenspitzen zu ihm hinging. Er saß so still da, dass ich dachte, er sei eingeschlafen. Ich stellte mich direkt vor ihn hin. Seine Augen waren weit aufgerissen, und einen Moment dachte ich, er wollte nach mir greifen, aber er saß einfach nur da – ein schrecklicher Anblick. Sein Gesicht war weiß, sein Atem ging stoßweise und rasselnd. Ich ahnte, dass ich vor einem Sterbenden stand.
»Wer ist da?«, flüsterte er keuchend, und ich konnte ihn kaum verstehen.
Ich bückte mich und hob das Buch vom Boden auf.
»Wer hat Euch das angetan?«, fragte ich.
Langsam und lautlos formten Jeremiahs Lippen ein Wort.
Joe.
Ich konnte nichts weiter tun und ging weg.
Kapitel 36
Fragment aus den
Erinnerungen des Ludlow Fitch
J eremiahs Sterbewort hatte meine Welt zertrümmert. Ich sah in seine Augen und konnte keine Lüge darin erkennen. Langsam ging ich den Berg hinauf, mein Herz war schwer wie Blei. Ich fühlte mich innerlich entzweigerissen. Die ganze Zeit hatte ich Joe für besser gehalten als alle anderen, besser, als ich je hoffen durfte, selbst zu sein. Doch am Ende war er genauso schlecht wie meine Ma und mein Pa, wenn nicht schlechter; meines Wissens hatten sie immerhin noch nie jemanden vorsätzlich umgebracht. Gut, ich hatte mir wie alle andern gewünscht, Joe möge sich gegen Jeremiah wenden. Aber nie hätte ich gedacht, dass es so ausgehen würde. Es ließ sich nicht anders sagen, Joe Zabbidou war ein Mörder.
Aber wie hatte er es getan?
Wieder und wieder ging ich in Gedanken die letzte Begegnung der beiden durch und suchte nach Hinweisen. Es war keine Waffe im Spiel gewesen, Jeremiah hatte keinerlei Verletzung. Vielleicht war er vergiftet worden. Aber wie? In dem Schnaps hätte Gift sein können. Aber sie hatten beidevom selben Schnaps getrunken. War es vielleicht im Glas gewesen?
Das war’s! Joe hatte Gift in Jeremiahs Glas getan, bevor er den Schnaps eingoss. Jeremiah hatte ihn in einem Zug ausgetrunken und das Gift – gewiss zu Joes Freude – mit einem zweiten Glas vollends hinuntergespült.
Joe saß vor dem Kaminfeuer und wartete auf mich. Er hatte ein Glas in der Hand und sah aus, als wäre nichts Ungewöhnliches geschehen. Sogar das Zimmer hatte er aufgeräumt.
»Hast du’s?«
Ich gab ihm das Buch.
»Gut gemacht. Ich wusste, dass ich mich auf dich verlassen kann.«
Ich wollte etwas sagen, aber ich war noch immer ganz durcheinander. Da sah ich seinen Ranzen auf dem Tisch. Er war ausgebeult und so prall gefüllt, dass sich die Nähte spannten. Daneben
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