Das schwarze Haus - King, S: Schwarze Haus
seines Rollstuhls hängt, solange er nur am Leben bleibt?
Wir gehen näher an ihn heran. Wir ignorieren den Gestank, so gut es geht. Wir wollen sehen, was sich aus dem Gesicht dieses merkwürdigen Kerls ablesen lässt. Es war wohl nie ein hübsches Gesicht, und jetzt ist die Haut grau, und die Wangen sind tief eingefallen. Hervortretende blaue Adern winden sich über den grauen Schädel, der wie das Ei eines Regenpfeifers getüpfelt ist. Die gummiartig wirkende Hakennase ist leicht nach rechts verschoben, was den Eindruck von Verschlagenheit und Heimlichtuerei noch verstärkt. Die schmalen Lippen sind zu einem beunruhigenden Lächeln verzogen: das Lächeln eines Brandstifters, der ein in Flammen stehendes Gebäude betrachtet – das aber vielleicht doch nur eine Grimasse ist.
Wir haben hier einen wahren amerikanischen Einzelgänger, einen inneren Vagabunden, ein Geschöpf schäbiger Zimmer und billiger Schnellimbisse und widerstrebend unternommener zielloser Reisen, einen Sammler von Wunden und Verletzungen, die unablässig liebevoll betastet werden. Einen Spitzel, der keine andere Sache als die eigene kennt. Burnys wahrer Name ist Carl Bierstone, und unter diesem Namen hat er in Chicago von Mitte zwanzig bis zu seinem 46. Lebensjahr einen geheimen Raubzug, einen unerklärten Krieg geführt, in dem er Missetaten allein wegen der Freuden, die sie ihm brachten, verübt hat. Carl Bierstone ist Burnys großes Geheimnis, er will nämlich niemanden wissen lassen, dass seine frühere Inkarnation, sein früheres Ich, noch immer in ihm lebt. Carl Bierstones
schlimme Freuden, sein schauriger Zeitvertreib, sind auch Burnys, und er muss sie im Dunkel versteckt halten, wo nur er sie finden kann.
Ist das also die Erklärung für Chippers Wunder? Dass Carl Bierstone irgendeine Möglichkeit gefunden hat, durch eine Naht aus Burnys Zombietum zu kriechen und den Befehl über das sinkende Schiff zu übernehmen? Schließlich enthält die menschliche Seele unendlich viele Räume, von denen einige riesig, einige nicht größer als eine Besenkammer, einige abgesperrt und nur ganz wenige von glänzendem Licht erfüllt sind. Wir lehnen uns tiefer über den geäderten Schädel, die leicht schiefe Nase, die drahtbürstengleichen Augenbrauen; wir beugen uns tiefer in den Gestank, um diese interessanten Augen zu begutachten. Sie sind wie schwarzes Neon: Sie glitzern wie Mondschein auf einem regennassen Flussufer. Alles in allem sehen sie beunruhigend vergnügt, aber nicht besonders menschlich aus. Das hilft uns nicht viel weiter.
Burnys Lippen bewegen sich: Er lächelt noch immer – wenn man diese Grimasse überhaupt als Lächeln bezeichnen kann – und hat zu flüstern begonnen. Was sagt er?
… sie kauern in ihren blutigen Löchern und halten sich die Augen zu, sie wimmern vor Entsetzen, meine armen verirrten Kleinen … Nein, nein, das nützt alles nichts, oder? Ah, seht die Maschinen, jawohl, o diese schönen, schönen Maschinen, welch ein Anblick, die schönen Maschinen am Draht, wie sie stampfen, wie sie stampfen und brennen … Ich sehe ein Loch, ja ja da ist’s oho so hell um die Ränder herum so aufgewölbt …
Vielleicht meldet sich Carl Bierstone ja irgendwo zur Stelle, aber sein Gebrabbel hilft uns da auch nicht wesentlich weiter. Wir wollen Burnys schlammglitzerndem Blick in der Hoffnung folgen, dass er uns einen Hinweis darauf gibt, was den alten Knaben so aufregt. Auch erregt, wie wir aus dem Umriss unter dem Laken ersehen. Chipper und er scheinen hier synchron zu sein, da beide schussbereit sind, nur dass Burny, der nicht Rebecca Vilas’ erfahrene Fürsorge genießt, als einziges Stimulans den Blick aus seinem Fenster hat.
Die Aussicht ist kaum mit Ms. Vilas zu vergleichen. Mit durch das Kissen leicht erhobenem Kopf blickt Charles Burnside
verzückt über eine schmale Rasenfläche zu einer Reihe von Ahornbäumen am Rand eines großen Waldes hinüber. Weiter im Hintergrund ragen die belaubten Kronen mächtiger Eichen auf. Auch einige Birkenstämme schimmern kerzenartig aus dem Walddunkel. Die Größe der Eichen und die allgemeine Baumvielfalt verraten uns, dass wir einen letzten Rest der gro ßen Urwälder vor uns haben, die hier einst das gesamte Gebiet bedeckten. Wie alle Überreste von Urwäldern sprechen die Wälder, die sich nördlich und östlich des Maxton erstrecken, von verborgenen Mysterien – mit einer Stimme, die fast zu tief ist, um gehört zu werden. Unter ihrem grünen Laubdach schlie ßen Zeit und
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