Das schwarze Haus - King, S: Schwarze Haus
aber anscheinend unversehrt ist. »Ach, du liebe Güte, Danny«, sagt der Geistliche. »Wie ich mich freue, Sie hier zu sehen.«
Doc funkelt die beiden an. »Ihr kennt euch?«
»Reverend Hovdahl, das hier ist Doc«, sagt Danny. »Doc, das hier ist Reverend Hovdahl, Pastor der Mount Hebron Lutheran Church.«
»Heiliger Strohsack«, sagt Doc und fängt sofort an, die Revers des kleinen Mannes abzuklopfen und am Saum von dessen Jackett zu zupfen, als wollte er ihn wieder in Form ziehen. »Sorry, Reverend, ich hab Ihnen hoffentlich nicht weh getan.«
Die Cops von der State Police und der Verrückte Ungar schaffen es endlich, sich durch die Menge zu quetschen. Der Geräuschpegel sinkt auf nicht allzu lautes Stimmengewirr herab – mit unterschiedlichen Mitteln haben Doc und seine Freunde die lautesten Krakeeler zum Schweigen gebracht.
»Zum Glück ist das Fenster breiter als ich«, sagt der Reverend.
»He, vielleicht könnte ich Sie mal besuchen, um ein bisschen mit Ihnen zu reden«, sagt Doc. »Ich habe in letzter Zeit viel übers Christentum im 1. Jahrhundert gelesen. Sie wissen schon, Geza Vermes, John Dominic Crossan, Paula Fredriksen, solches Zeug. Mich würde interessieren, was Sie von einigen meiner Ideen halten.«
Was der Reverend Hovdahl zu sagen beabsichtigt, geht in einer plötzlichen Lärmexplosion am oberen Ende der Zufahrt unter. Eine Frau kreischt wie eine Furie: ein gellendes, fast nicht mehr menschliches Kreischen, bei dem sich Danny die Nackenhaare sträuben. Für ihn klingt das, als streiften ausgebrochene Irre, tausendmal gefährlicher als die Thunder Five, tobend durch die Landschaft. Was zum Teufel ist dort oben jetzt schon wieder los?
»›Hallo, Boys‹?« Bobby Dulac, der seine Empörung nicht mehr unterdrücken kann, dreht sich um und starrt erst Dale, dann Jack an. »Soll der Scheiß echt sein? ›Hallo, Boys‹?«
Dale hüstelt hinter vorgehaltener Hand und zuckt mit den Schultern. »Er wollte, dass wir sie finden.«
»Klar doch«, sagt Jack. »Er hat uns aufgefordert, hierher zu fahren.«
»Aber wozu hat er das getan?«, fragt Bobby.
»Weil er stolz auf seine Arbeit ist.« Aus irgendwelchen düsteren Tiefen von Jacks Gedächtnis kommt eine hässliche Stimme: Halt dich da raus. Leg dich nicht mit mir an, sonst verstreu ich deine Eingeweide von Racine bis La Riviere. Wessen Stimme war das gewesen? Obwohl er außer seiner Überzeugung keinen Beweis dafür hat, versteht Jack, dass der Fisherman identifiziert wäre, wenn es ihm gelänge, diese Stimme jemandem zuzuordnen. Aber das schafft er nicht; in diesem Augenblick kann Jack Sawyer sich nur an einen Gestank erinnern, der schlimmer war als der Verwesungsgeruch, der dieses verfallene Gebäude erfüllt – ein grässlicher Gestank, der aus dem Südwesten einer anderen Welt kam. Auch das war der Fisherman beziehungsweise das, was der Fisherman in jener anderen Welt war.
Dann kommt ihm ein Gedanke, einer, der eines ehemaligen
aufgehenden Sterns der Mordkommission im LAPD würdig ist, und er sagt: »Dale, ich glaube, du solltest Henry mal die Aufzeichnung des Notrufs vorspielen.«
»Das verstehe ich nicht. Wozu?«
»Henry nimmt Töne wahr, die nicht mal Fledermäuse hören. Selbst wenn er die Stimme nicht erkennt, werden wir danach weit mehr wissen als jetzt.«
»Tja, Onkel Henry vergisst halt nie eine Stimme, die er schon mal gehört hat, das ist wahr. Okay, machen wir, dass wir hier rauskommen. Der Leichenbeschauer und die Spurensicherer müssten eigentlich gleich eintreffen.«
Während Jack hinter den beiden anderen Männern hergeht, denkt er an Tyler Marshalls Baseballmütze und wo er sie gefunden hat – in jener Welt, die er mehr als sein halbes Leben zu leugnen versucht hat, bis er heute Morgen in sie zurückgekehrt ist, was noch immer Schockwellen durch seinen Körper sendet. Der Fisherman hat die Mütze für ihn in den Territorien zurückgelassen, von denen er erstmals gehört hat, als er sechs war … als Jacky sechs war und Daddy das Blasinstrument spielte. Das alles, dieses gewaltige Abenteuer drängt sich jetzt wieder in sein Bewusstsein, aber nicht etwa, weil er das will, sondern weil es zurückkommen muss : Mächte, auf die er keinen Einfluss hat, halten ihn am Genick gepackt und schleppen ihn vorwärts. Vorwärts in die eigene Vergangenheit! Der Fisherman ist stolz auf seiner Hände Arbeit, ja, der Fisherman verspottet sie absichtlich – eine so offenkundige Wahrheit, dass keiner der drei Männer sie
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