Das schwarze Haus - King, S: Schwarze Haus
ausgestreckt; der andere lehnt senkrecht an der Wand. Die Finger beider Hände sind in die Handflächen verkrallt. Stumpfes rotblondes Haar gibt eine sommersprossige Stirn frei. Falls Augen und Mund irgendeinen erkennbaren Ausdruck zeigen, lassen sie gelinde Überraschung erkennen. Das ist aber nur ein anatomischer Zufall; er hat nichts zu bedeuten, die Gesichtszüge des kleinen Mädchens waren nämlich so angeordnet, dass es selbst im Schlaf immer leicht überrascht wirkte. Auf den Backenknochen, den Schläfen, dem Hals zeichnen sich deutlich Prellungen, die wie Tintenflecken und Radiergummispuren aussehen, ab. Ein mit Schmutz und angetrocknetem Blut beschmiertes weißes T-Shirt mit dem Logo der Milwaukee Brewers bedeckt den Körper vom Hals bis zum Bauchnabel. Die untere Körperhälfte, die außer an den mit Blut gesprenkelten Stellen rauchfahl ist, ragt in die dunkle Lache, über der die ekstatischen Fliegen summen, hinein. Das nackte, dünne linke Bein weist am Knie Wundschorf auf und endet mit einem blutbefleckten Laufschuh der Marke New Balance – Größe 34, der Schnürsenkel doppelt verknotet, die Schuhkappe zur Decke weisend. Wo der Zwilling dieses Beins sein sollte, herrscht Leere:
Der rechte Oberschenkel endet knapp unterhalb der Hüfte abrupt mit einem ausgefransten Stumpf.
Vor uns sehen wir das dritte Opfer des Fishermans, die zehnjährige Irma Freneau. Die Erschütterungswellen, die schon ihr gestriges Verschwinden unmittelbar vom Gehsteig vor dem Videoshop ausgelöst hat, werden an Stärke und Zahl noch zunehmen, bis Dale Gilbertson in etwas über vierundzwanzig Stunden ihre Leiche auffinden wird.
Der Fisherman hat sie auf der Chase Street aufgelesen und es irgendwie geschafft, sie die Chase Street und Lyall Road entlang, am 7-Eleven und der Halle der Veteranenvereinigung vorbei, an dem Haus vorbei, in dem Wanda Kinderling vor Wut schäumt und trinkt, und an dem glitzernden gläsernen Raumschiff von Goltz’s vorbei über die Grenze zwischen Stadt und Umland zu bringen.
Sie lebte noch, als der Fisherman sie durch die Eingangstür neben dem von Schüssen durchlöcherten Coca-Cola-Schild schleppte. Sie muss sich gewehrt haben, sie muss gekreischt haben. Der Fisherman drängte sie an die rückwärtige Wand und brachte sie mit Schlägen ins Gesicht zum Schweigen. Höchstwahrscheinlich erwürgte er sie. Er ließ die Leiche zu Boden sinken und arrangierte ihre Gliedmaßen. Bis auf die weißen Laufschuhe der Marke New Balance zog er ihr alle Kleidungsstücke hüftabwärts aus: Jeans, Shorts, Unterhose, was immer Irma auch getragen haben mochte, als er sie entführte. Danach amputierte der Fisherman ihr das rechte Bein. Mit einem langen Messer mit schwerer Klinge, also ohne ein Hackbeil oder eine Säge zu benützen, zerteilte er Fleisch und Knochen, bis es ihm gelang, das Bein vom Körper zu trennen. Dann hackte er – vermutlich mit nicht mehr als zwei, drei Hieben – den Fuß am Knöchel ab und warf ihn mitsamt dem wei ßen Laufschuh achtlos beiseite. Irmas Fuß war für den Fisherman unwichtig – er wollte nur ihr Bein.
Dies, meine Freunde, sind wahre Verwerfungen.
Irma Freneaus kleiner, regloser Körper scheint sich abzuflachen, als wollte er durch die verfaulenden Bodenbretter sickern.
Die trunkenen Fliegen summen weiter. Der Hund versucht noch immer, seine saftige Beute ganz aus dem Laufschuh zu zerren. Könnten wir den einfältigen Ed Gilbertson wieder zum Leben erwecken, würde er neben uns auf die Knie sinken und weinen. Wir dagegen …
Wir sind nicht hier, um zu weinen. Jedenfalls nicht auf eine Art wie Ed: schamvoll entsetzt und ungläubig. In seiner Bruchbude hat sich ein gewaltiges Geheimnis manifestiert, dessen Wirkungen und Spuren uns von allen Seiten umgeben. Wir sind vielmehr hier, um zu beobachten, um alles zu registrieren und die im Kometenschweif des Geheimnisses auftretenden Eindrücke, die verbliebenen Bilder festzuhalten. Es spricht aus ihren Details, deshalb bleibt es in seinem eigenen Kielwasser zurück, deshalb umgibt es uns. Die Szene strahlt tiefen, schweren Ernst aus, und dieser Ernst macht uns demütig. Demut ist unsere beste, zutreffendste erste Reaktion. Ohne sie würden wir den Sinn des Ganzen nicht erkennen: Das große Geheimnis bliebe uns verborgen, und wir würden dumm wie Esel blind und taub weiterirren. Aber wir wollen keine Esel sein. Wir müssen der uns darbietenden Szene – den Fliegen, dem Hund, der an dem abgetrennten Fuß herumnagt, der armen,
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