Das schwarze Haus - King, S: Schwarze Haus
umgibt, bleibt uns keine andere Wahl: Wir müssen es als Augenzeugen wahrnehmen. Durch unser Zeugnis werden wir es nach Maßgabe unserer individuellen Fähigkeiten ehren; indem es wahrgenommen wird, indem es vor unserem stummen Blick seine Aussage macht, wird es uns diese kleine Mühe in weit größerem Maß vergelten.
Wir befinden uns wieder hoch in den Lüften, und unter uns liegt die French County wie eine topographische Karte ausgebreitet. Die Morgensonne, jetzt heller, lässt grüne rechteckige Felder erstrahlen und glitzert auf den Blitzableitern, die auf den Scheunenfirsten angebracht sind. Die Straßen sehen sauber aus. Sonnenlicht spiegelt sich auf den Dächern der wenigen Autos, die entlang der Feldraine in Richtung Stadt fahren. Schwarz gescheckte Milchkühe drängen sich an Weidetoren zusammen und sind bereit, in ihre Pferche geführt zu werden, wo die Melkmaschine wie jeden Morgen auf sie wartet.
In sicherer Entfernung von dem schwarzen Haus, das uns nun schon ein ausgezeichnetes Beispiel für Verwerfungen gegeben hat, segeln wir nach Osten, überqueren das lange schwarze Band der Eleventh Street und erreichen ein Übergangsgebiet mit verstreuten Häusern und kleinen Gewerbebetrieben, bevor der Highway 35 dann ausschließlich Farmland durchschneidet.
Das 7-Eleven gleitet vorbei, dann die Halle der Veteranenvereinigung, vor der die Old Glory erst in einer Dreiviertelstunde am Fahnenmast aufgezogen werden wird. In einem der Häuser, die in einiger Entfernung der Straße stehen, erwacht eine Frau namens Wanda Kinderling aus dem Schlaf – die Ehefrau von Thornberg Kinderling, eines schlechten und törichten Mannes, der im Staatsgefängnis in Waupun eine lebenslängliche Haftstrafe verbüßt -, begutachtet den Wodkaspiegel in der Flasche auf dem Nachttisch und beschließt, das Frühstück für eine weitere Stunde zu verschieben. Fünfzig Meter weiter stehen glänzend polierte Traktoren wie Soldaten aufgereiht gegenüber dem riesigen Kuppelbau aus Stahl und Glas von Ted Goltz’ Landmaschinenhandel, French County Farm Equipment, in dem ein anständiger, von Sorgen geplagter Ehemann und Vater namens Fred Marshall, den wir nächstens kennen lernen werden, sich bald zur Arbeit einfinden wird.
Hinter der protzigen Glaskuppel und dem Asphaltsee von Goltz’s degeneriert ein steiniges, lange vernachlässigtes Feld von einer halben Meile Länge allmählich zu kahlem Erdboden und kargem Unkraut. Am Ende einer langen, überwucherten Zufahrt steht zwischen einem alten Schuppen und einer uralten Zapfsäule etwas, was ein Haufen verrottendes Bauholz zu sein scheint. Das ist unser Ziel. Wir gleiten tiefer. Der vermeintliche Haufen Bauholz erweist sich als windschiefes, baufälliges Gebäude am Rande des Zusammenbruchs. Ein von Schüssen durchsiebtes altes Coca-Cola-Blechschild lehnt schräg an seiner Fassade. Der mit niedrigem Gestrüpp bewachsene Boden ist mit Bierdosen und dem weißlichen Gespinst alter Zigarettenfilter übersät. Aus dem Gebäude dringt das stetige, einschläfernde Summen von Myriaden von Fliegen. Wir würden am liebsten in die frische Luft zurückweichen und davonfliegen. Das schwarze Haus war schon schlimm genug, es war sogar ziemlich schrecklich, aber das hier … das hier ist bestimmt noch schlimmer.
Eine Nebendefinition von Verwerfungen lautet: das Gefühl, dass die Dinge im Allgemeinen gerade schlechter geworden sind – oder sich sehr bald verschlechtern werden.
In dem verfallenen containerartigen Schuppen vor uns war früher ein lachhaft schlecht geführtes und unhygienisches Etablissement namens Ed’s Eats & Dawgs untergebracht. An einer nie anders als schmuddeligen Theke hatte ein glucksender, drei Zentner schwerer Fettkloß namens Ed Gilbertson einst einer kleinen, nicht sonderlich wählerischen Kundschaft – die hauptsächlich aus einheimischen Kindern bestand, die mit dem Fahrrad hierher gelangten – fettige, verschmorte Hamburger, mit schwarzen Daumenabdrücken garnierte Mortadella-Mayonaise-Sandwiches und triefende Eiswaffeln serviert. Ed, nun schon lange tot, war einer der zahlreichen Onkel Dale Gilbertsons, des jetzigen Polizeichefs von French Landing also, und weithin als gutmütiger Fettsack und Schwachkopf bekannt. Seine Kochschürze war unbeschreiblich schmutzig; der Zustand seiner Hände und Fingernägel hätte bei jedem vorbeikommenden Gesundheitsinspektor Brechreiz ausgelöst; seine Gerätschaften hätte er genauso gut von einer Katze abschlecken lassen können.
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