Das schwarze Haus - King, S: Schwarze Haus
herabsinken (es wird bereits wärmer; das wird bestimmt ein herrlicher Tag fürs Erdbeerfest). Wir schweben lautlos über die Camelot Street hinweg, wo sie die Avalon Street kreuzt, und folgen der Avalon Street zum Maid Marian Way. Von dort aus erreichen wir – überrascht das jemanden? – die Robin Hood Lane.
Hier im Haus Nr. 16, einem entzückenden, scheinbar unmittelbar aus New England importierten Häuschen, das ideal für »die anständige, strebsame Familie auf dem Weg nach oben« geeignet zu sein scheint, finden wir ein Küchenfenster, das offen ist. Es riecht nach Kaffee und Toast, eine wundervolle Geruchskombination, die allen statthabenden Verwerfungen Lügen zu strafen scheint (wüssten wir’s nur nicht besser; hätten wir nur nicht diesen Hund gesehen, der einen Fuß
aus einem Laufschuh frisst, wie ein Kind einen Hotdog aus dem Brötchen isst), und folgen dem Wohlgeruch hinein. Gar nicht so schlecht, unsichtbar zu sein, was? Nämlich in unserem gottähnlichen Schweigen alles ungestört beobachten zu können. Wenn unsere gottähnlichen Augen nur Dinge sähen, die nicht so gottverdammt verstörend wären! Aber dies nur nebenbei. Wir sind nun einmal dabei, in Freud und Leid, und sollten uns lieber um unseren Kram kümmern. Wir wollen keine Daumendreher sein, wie man in diesem Teil der Welt sagt.
Hier in der Küche von Nr. 16 treffen wir Fred Marshall an, dessen Bild gegenwärtig die Staffelei mit der Aufschrift »Verkäufer des Monats« im Ausstellungsraum der Firma French County Farm Equipment ziert. Fred ist in den letzten vier Jahren allein dreimal »Mitarbeiter des Jahres« gewesen (vor zwei Jahren hat Ted Goltz zur Abwechslung einmal Otto Eisman ausgezeichnet, nur um keine Monotonie aufkommen zu lassen), und wenn er in der Arbeit ist, gibt es niemanden, der mehr Charme, Persönlichkeit oder allgemeine Nettigkeit ausstrahlt. Sie wollten etwas Nettes? Meine Damen und Herren, voilà: Fred Marshall!
Nur ist sein zuversichtliches Lächeln jetzt nicht zu bemerken, und sein Haar, das in der Arbeit stets sorgfältig gekämmt ist, hat noch keinen Kamm gesehen. Statt wie sonst gebügelte Khakihosen und ein Sporthemd trägt er Nike-Shorts und ein kurz ärmeliges T-Shirt. Auf der Arbeitsplatte liegt aufgeschlagen ein Exemplar des La Riviere Herald .
Fred hat in letzter Zeit mit Problemen zu kämpfen – beziehungsweise seine Frau Judy hat Probleme, und was ihres ist, ist auch seins, das hat der Geistliche gesagt, der sie damals getraut hat -, und was er hier liest, hebt seine Stimmung nicht gerade. Durchaus nicht. Es ist ein Ergänzungsartikel zu der Hauptstory auf der Titelseite, und sein Autor ist natürlich jedermanns liebster Spinner: Wendell »FISHERMAN WEITER AUF FREIEM FUß« Green.
Der Artikel enthält eine Zusammenfassung der beiden ersten Morde ( grausig ohne Ende, so denkt Fred über sie), und während Fred ihn liest, biegt er erst das linke, dann das rechte Bein hinter sich hoch, um die ganz, ganz wichtige Oberschenkelmuskulatur
zu dehnen, bevor er wie jeden Morgen joggt. Was könnte Verwerfungen entgegengesetzter sein als morgendliches Joggen? Was könnte netter sein? Was könnte einen so wundervollen Beginn eines herrlichen Tages in Wisconsin verderben?
Nun, zum Beispiel das hier:
Johnny Irkenham hatte sehr einfache Träume, wie sein untröstlicher Vater berichtet. [ Untröstlicher Vater, denkt Fred, während er sich streckt und an seinen über ihm schlafenden Sohn denkt. Lieber Gott, bewahre mich davor, jemals ein untröstlicher Vater zu werden. Natürlich ohne zu ahnen, wie bald er diese Rolle wird übernehmen müssen.] »Johnny wollte Astronaut werden«, so George Irkenham, während ein kurzes Lächeln sein erschöpftes Gesicht aufleuchten lässt. »Das heißt, wenn er nicht mit der hiesigen Feuerwehr Großbrände löschte oder mit der Justice League of America gegen Verbrechen kämpfte.«
Diese unschuldigen Träume endeten mit einem Albtraum, den wir uns nicht vorstellen können. [ Aber du wirst’s bestimmt versuchen , denkt Fred, der jetzt anfängt, auf den Zehen zu wippen.] Letzten Montag wurde seine zerstückelte Leiche von Spencer Hovdahl aus Centralia entdeckt. Hovdahl, ein Kreditsachbearbeiter der First Farmer State Bank, begutachtete in French Landing eine verlassene Farm, deren Besitzer, John Ellison, in einer benachbarten County lebt, im Hinblick auf eine mögliche Zwangsversteigerung. »Ich wollte eigentlich gar nicht hin«, erklärte uns Hovdahl. »Wenn es etwas gibt, was
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