Das schwarze Haus - King, S: Schwarze Haus
nicht.«
»Na gut.« Tansy schleckt wieder an ihrem Drink. »Das können wir nachholen, wenn sie mal rausgeht. Und Sie können mich wie Lester Moon umarmen. Und was Lester alles tut, können Sie auch tun. Mit mir.«
»Danke«, sagt Jack. »Tansy, können Sie mir vielleicht erzählen, was Gorg sonst noch gesagt hat?«
Sie legt den Kopf schief, schiebt die Lippen vor und zieht sie wieder zurück. »Er hat gesagt, dass er durch ein flammendes Loch hergekommen ist. Mit zurückgefalteten Rändern. Und er hat gesagt, dass ich eine Mutter bin und meiner Tochter helfen
muss. Im Gedicht heißt sie Lenore, aber ihr richtiger Name ist Irma. Und er hat auch gesagt … er hat gesagt, dass ein böser alter Mann ihr Bein gegessen hat, aber dass es schlimmere Dinge gibt, die meiner Irma hätten zustoßen können.«
Einige Sekunden lang scheint Tansy kurz davor zu sein, in sich selbst zurückzuweichen, unter ihrer stationären Oberfläche zu verschwinden. Ihr Mund bleibt halb geöffnet; sie blinzelt nicht einmal. Als sie aus unbekannter Ferne zurückkehrt, könnte man glauben, sie sei eine Statue, die langsam lebendig wird. Ihre Stimme ist fast zu leise, um hörbar zu sein. »Ich sollte es diesem Alten heimzahlen , es ihm gründlich heimzahlen. Aber Sie haben mir die schönen Maiglöckchen geschenkt, und er war ja nicht der richtige Mann, nicht wahr?«
Jack würde am liebsten laut kreischen.
»Er hat gesagt, dass es schlimmere Dinge gibt«, flüstert Tansy wie ungläubig. »Aber er hat nicht gesagt, welche er meint. Stattdessen hat er sie mir gezeigt. Und als ich sie gesehen habe, dachte ich, meine Augen würden verbrennen. Obwohl ich noch sehen konnte.«
»Was haben Sie gesehen?«
»Eine große, große Weite, ganz aus Feuer gemacht«, sagt Tansy. »Ungeheuer hoch und weit.« Sie verstummt, dann durchläuft sie ein innerliches Zittern, das im Gesicht beginnt, nach unten durch ihren Körper läuft und ihn durch die Finger verlässt. »Irma ist nicht dort. Nein, das ist sie nicht. Sie ist umgekommen, und ein böser alter Mann hat ihr Bein gegessen. Er hat mir einen Brief geschickt, aber den hab ich nie gekriegt. Deshalb hat Gorg ihn mir vorgelesen. An diesen Brief möchte ich nicht mehr denken.« Das klingt, als schilderte ein kleines Mädchen etwas, was es nur vom Hörensagen kennt oder sich ausgedacht hat. Zwischen Tansy und allem, was sie gesehen und gehört hat, befindet sich ein eiserner Vorhang, und nur dank dieses Vorhangs funktioniert sie noch. Jack fragt sich nochmals, was aus ihr werden wird, wenn die Maiglöckchen verwelken.
»Und jetzt«, sagt sie, »wird’s Zeit, dass Sie gehen, wenn Sie mich nicht küssen wollen. Ich möchte eine Zeit lang allein sein.«
Jack, den ihre Entschlossenheit überrascht, steht auf und beginnt etwas höflich Belangloses zu sagen. Tansy winkt ihn in Richtung Tür von sich weg.
Im Freien scheint die Luft mit schlechten Gerüchen und unsichtbaren Chemikalien geschwängert zu sein. Die Maiglöckchen aus den Territorien haben sich mehr Kraft bewahrt, als Jack ihnen zugetraut hat – jedenfalls genug, um die Luft in Tansys Wohnwagen frisch und rein zu machen. Der Boden unter Jacks Füßen ist von der Sonne ausgedörrt, und in der Luft hängt ein brennend säuerlicher Geruch. Unterwegs zu seinem Pickup muss Jack sich fast zum Atmen zwingen, aber je mehr er atmet, desto schneller wird er sich wieder an die normale Welt gewöhnen. Seine Welt, obwohl sie ihm jetzt vergiftet erscheint. Er hat nur noch einen Wunsch: auf dem Highway 93 zu Judy Marshalls Aussichtspunkt hinaufzurasen, nach Arden hinunter und auf den Besucherparkplatz zu fahren, ins French County Lutheran zu stürmen und die von Dr. Spiegleman und Oberschwester Jane Bond errichteten Barrieren zu überwinden, bis er sich wieder in der lebensspendenden Gegenwart Judy Marshalls befindet.
Er glaubt, Judy Marshall irgendwie zu lieben. Vielleicht liebt er sie ja wirklich. Er weiß, dass er sie braucht: Judy ist seine Tür und sein Schlüssel. Seine Tür , sein Schlüssel . Was immer das bedeutet, es ist die Wahrheit. Okay, diese Frau, die er so sehr braucht, ist mit dem äußerst netten Fred Marshall verheiratet, aber er will sie ja nicht heiraten; eigentlich will er noch nicht einmal mit ihr schlafen, jedenfalls nicht unbedingt – er will nur vor ihr stehen und dann abwarten, was geschieht. Irgendetwas wird geschehen, das steht fest, aber als er sich das vorzustellen versucht, sieht er nur eine Explosion aus winzigen roten Federn,
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