Das schwarze Haus - King, S: Schwarze Haus
fast gar nicht, wenigstens nicht, wenn er nüchtern ist.«
»Erzählen Sie mir von Gorg«, sagt Jack.
Tansy, die graziös den kleinen Finger vom Scooby-Doo-Glas wegstreckt, nimmt einen weiteren Schluck Kaffeebrandy. Sie runzelt wieder die Stirn. »Oh, das ist aber ein richtig ekliges Thema.«
»Ich möchte mehr über ihn wissen, Tansy. Helfen Sie mir, dann kann ich dafür sorgen, dass er Sie nie wieder belästigt.«
»Wirklich?«
»Und Sie würden mir damit auch helfen, den Mann zu finden, der Ihre Tochter umgebracht hat.«
»Darüber will ich jetzt nicht reden. Das regt mich zu sehr auf.« Mit ihrer freien Hand macht Tansy eine flatternde Bewegung über ihrem Schoß, als wollte sie Krümel wegwischen. Sie verzieht das Gesicht, und in ihre Augen tritt ein neuer Ausdruck.
Dabei taucht eine Sekunde lang die verzweifelte, schutzlose Tansy auf, die in einem Delirium aus Trauer und Wut zu explodieren droht.
»Sieht Gorg wie ein Mensch aus oder wie etwas anderes?«
Tansy schüttelt sehr langsam und bedächtig den Kopf. Sie ist dabei, sich wieder zusammenzureißen, wieder in eine Persönlichkeit zu schlüpfen, die ihre wahren Gefühle ignorieren kann. »Nein, Gorg sieht nicht wie ein Mensch aus. Überhaupt nicht.«
»Sie haben gesagt, er habe Ihnen die Feder gegeben, die Sie getragen haben. Sieht er wie ein Vogel aus?«
»Gorg sieht nicht wie ein Vogel aus, er ist ein Vogel. Und wissen Sie, was für einer?« Sie beugt sich wieder nach vorn, und ihr Gesicht nimmt den Ausdruck einer Sechsjährigen an, die dabei ist, das Schlimmste zu erzählen, was sie weiß. »Ein Rabe . Das ist er, ein großer alter Rabe . Ganz schwarz. Wenn auch nicht glänzend schwarz.« Ihre Augen weiten sich wegen der Wichtigkeit dessen, was sie mitzuteilen hat. »Er ist aus Plutos nächtiger Sphäre gekommen. Das stammt aus einem Gedicht, das wir in der sechsten Klasse bei Mrs. Normandie gelernt haben. Der Rabe von Edgar Allan Poe.«
Tansy setzt sich auf, nachdem sie dieses wertvolle Detail aus der Literaturgeschichte weitergegeben hat. Jack vermutet, dass Mrs. Normandie denselben befriedigten, pädagogischen Ausdruck zur Schau getragen hat, der jetzt auf Tansys Gesicht steht – aber ohne den lebhaften, ungesunden Glanz in Tansys Augen.
»Plutos nächtige Sphäre gehört nicht zu unserer Welt«, fährt Tansy fort. »Haben Sie das gewusst? Sie existiert neben unserer Welt und außerhalb von ihr. Wer sie besuchen will, muss eine Tür finden, die zu ihr führt.«
Als ob man mit Judy Marshall spräche, kommt es Jack plötzlich vor, aber mit einer Judy Marshall ohne die Seelengröße und den unglaublichen Mut, die sie vor dem Wahnsinn gerettet haben. Sobald ihm Judy Marshall einfällt, will er sie wiedersehen, und dieser Wunsch ist so stark, dass Judy ihm wie der eine entscheidende Schlüssel zu den Rätseln erscheint, die ihn auf allen Seiten umgeben. Und ist sie der Schlüssel, ist sie auch die Tür, die er öffnet. Jack will aus der dunklen, verbogenen
Atmosphäre von Tansys Wohnwagen heraus; er will sein Treffen mit den Thunder Five auf später verschieben und den Highway entlang und über den Hügel nach Arden und zu dem düsteren Krankenhaus rasen, in dem die strahlende Judy Marshall in einer geschlossenen psychiatrischen Abteilung ihre Freiheit gefunden hat.
»Aber ich will diese Tür niemals finden, weil ich nicht dort hingehen will«, sagt Tansy in leierndem Tonfall. »Plutos nächtige Sphäre ist eine schlechte Welt. Dort steht alles in Flammen. «
»Woher wissen Sie das?«
»Gorg hat’s mir gesagt«, flüstert Tansy. Ihr Blick huscht von ihm weg und wendet sich dem Scooby-Doo-Glas zu. »Gorg mag Feuer. Aber nicht, weil es ihn wärmt. Sondern weil es Dinge verbrennt, und das macht ihn glücklich. Gorg hat gesagt …« Sie schüttelt den Kopf und hebt das Glas an die Lippen. Statt daraus zu trinken, kippt sie das Glas aber nur, bis die Flüssigkeit den Rand erreicht, um sie dann mit der Zunge aufzuschlecken. Ihr Blick gleitet wieder höher und begegnet seinem. »Mein Tee ist ein Zaubertrank, glaub ich.«
Aber sicher, denkt Jack, dem fast das Herz bricht, wenn er die zarte, verirrte Tansy betrachtet.
»Sie dürfen hier drinnen nicht weinen«, erklärt sie ihm. »Sie machen ein Gesicht, als wenn Sie weinen wollten, aber das dürfen Sie nicht. Mrs. Normandie erlaubt es nicht. Allerdings dürfen Sie mich küssen. Wollen Sie mich küssen?«
»Natürlich will ich das«, sagt er. »Aber Küssen erlaubt Mrs. Normandie auch
Weitere Kostenlose Bücher