Das schwarze Haus - King, S: Schwarze Haus
der Bann gebrochen. Der hinter der polierten Holztheke sitzende Mann, der jetzige Torwächter dieses Reichs, ist nämlich größer, jünger und weit unfreundlicher als sein Kollege vom Vortag. Als Jack seinen Wunsch äußert, Mrs. Marshall zu besuchen, wirft der Jüngling einen verächtlichen Blick auf den Besucherausweis und fragt Jack, ob er zufällig ein Verwandter oder – ein weiterer Blick auf den Ausweis – Mediziner sei. Keines von beidem, gibt Jack zu, aber wenn der Jüngling sich die Mühe machen wolle, Oberschwester Bond mitzuteilen, Mr. Sawyer wünsche Mrs. Marshall zu sprechen, werde Oberschwester Bond praktisch garantiert die dräuende Metalltür aufstoßen und ihn hereinwinken, wie sie das schon gestern mehr oder weniger getan habe.
Alles schön und gut, falls es überhaupt stimme, räumt der Jüngling ein, aber Oberschwester Bond werde heute keine Türen aufstoßen und jemanden hereinwinken, Oberschwester Bond habe heute nämlich ihren freien Tag. Ob Mr. Sawyer bei seinem gestrigen Besuch bei Mrs. Marshall vielleicht zufällig von einem Angehörigen, sagen wir Mr. Marshall, begleitet worden sei?
Ja. Und falls Mr. Marshall konsultiert werde, sagen wir mal telefonisch, würde er den jungen Mann, der dieses Thema im Augenblick lobenswert verantwortungsbewusst mit Mr. Sawyer diskutierte, dazu drängen, diesen Gentleman ohne weitere Verzögerung einzulassen.
Schon möglich, gibt der Jüngling zu, aber laut Dienstvorschrift dürften nicht im Pflegedienst Beschäftigte in Positionen wie der junge Mann nur mit Genehmigung nach draußen telefonieren.
Und von wem, wünscht Jack zu erfahren, könne diese Genehmigung eingeholt werden?
Von Schwester Rack, der Oberschwester vom Dienst.
Jack, dem allmählich, wie man sagt, der Kragen zu platzen droht, schlägt vor, dann solle der Jüngling eben die ehrenwerte Oberschwester Rack aufsuchen und die erforderliche Genehmigung einholen, damit die Sache ihren von Mr. Marshall, dem Ehemann der Patientin, gewünschten Lauf nehmen könne.
Nein, der Jüngling sehe keinen Grund, diesen Weg einzuschlagen, was er damit begründet, dass dies eine bedauerliche Vergeudung von Zeit und Mühe sei. Mr. Sawyer sei kein Angehöriger von Mrs. Marshalls Familie; daher werde die ehrenwerte Oberschwester Rack die Genehmigung auf keinen Fall erteilen.
»Gut«, sagt Jack, der diesen ärgerlichen Blindgänger am liebsten erwürgen würde, »dann wollen wir auf der Verwaltungsleiter eine Stufe höher steigen, okay? Ist Dr. Spiegleman irgendwo im Haus?«
»Schon möglich«, sagt der Jüngling. »Woher soll ich das wissen? Dr. Spiegleman erzählt mir nicht alles, was er tut.«
Jack deutet auf das Telefon am Ende der Holztheke. »Ich erwarte nicht, dass Sie das wissen, ich erwarte, dass Sie’s rauskriegen. Sie telefonieren jetzt, und zwar sofort .«
Der junge Mann schlurft die Theke entlang ans Telefon, verdreht dabei die Augen, tippt zwei Ziffern ein und lehnt sich mit dem Rücken zum Raum an die Holztheke. Jack hört, wie er etwas von Spiegleman murmelt, seufzt und dann sagt: »Okay, verbind mich, was auch immer.« Nachdem er verbunden worden ist, murmelt er etwas, in dem auch Jacks Name vorkommt. Was er als Antwort zu hören bekommt, veranlasst ihn, sich ruckartig aufzurichten und mit großen Augen über die Schulter zu Jack hinüberzusehen. »Ja, Sir. Er ist gerade hier, ja. Ich richte’s ihm aus.«
Er legt den Hörer auf. »Dr. Spiegleman kommt sofort.« Der Junge – er ist nicht älter als zwanzig – tritt von der Theke zurück und vergräbt die Hände in den Hosentaschen. »Sie sind also dieser Cop, was?«
»Welcher Cop?«, sagt Jack noch immer verärgert.
»Der aus Kalifornien, der hergekommen ist und Mr. Kinderling verhaftet hat.«
»Ja, der bin ich.«
»Ich bin aus French Landing, und Mann, das war vielleicht ein Schock. Für die ganze Stadt. Das hätte niemand gedacht. Mr. Kinderling? Als ob’s ein Witz gewesen wär? Kein Mensch hätte geglaubt, dass jemand wie er … na ja, Sie wissen schon, Leute umbringen würde.«
»Haben Sie ihn gekannt?«
»Na ja, in French Landing kennt praktisch jeder jeden, aber ich hab Mr. Kinderling nicht sonderlich gekannt, außer dass ich ihn auf der Straße gegrüßt hab. Gekannt hab ich dafür seine Frau. Sie war an der Mount Hebron Lutheran meine Sonntagsschullehrerin.«
Jack kann nicht anders. Er muss laut über die Absurdität lachen, dass die Frau eines Mörders in der Sonntagsschule unterrichtet. Die Erinnerung daran, wie
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