Das schwarze Haus - King, S: Schwarze Haus
nichts Schlimmeres vorstellen kann, als Henrys Leiche aufzufinden, ändert nichts an seiner Aufgabe. Trauer kann viele Formen annehmen, aber die Trauer, von der Jack Sawyer jetzt erfasst wird, fühlt sich wie Granit an. Sie verlangsamt seinen Schritt, lässt ihn die Zähne zusammenbei ßen. Als er nach links tritt und nach dem Lichtschalter tastet, lenkt diese steinerne Trauer seine Hand so zielsicher zur richtigen Stelle der Wand, als griffe Henry nach dem Schalter.
Da er in dem Augenblick, in dem das Licht aufflammt, der Wand zugekehrt ist, nimmt er das Wohnzimmer nur am Rand seines Blickfelds wahr, und die Schäden scheinen weniger schwer zu sein, als er befürchtet hat. Eine Stehlampe ist ungeworfen worden, ein Sessel liegt auf der Seite. Sobald Jack den Kopf aber zur Seite dreht, brennen sich ihm zwei Aspekte von Henrys Wohnzimmer in die Netzhäute ein. Der erste ist eine rot geschriebene Mitteilung an der cremeweißen Wand gegenüber; der zweite ist die unglaubliche Menge Blut auf dem Fußboden. Die Blutflecken bilden Henrys Weg ins Wohnzimmer und wieder hinaus nach. Mit Blutklumpen, wie sie ein angeschossenes Stück Wild hinterlassen würde, beginnt es auf dem Flur, und sie ziehen sich von vielen Schleifen und Spritzern begleitet bis hinter das Sofa, wo das Blut eine Lache bildet. Eine weitere große Lache hat sich auf dem Hartholzboden unter dem langen niedrigen Tisch angesammelt, auf dem Henry manchmal seinen tragbaren CD-Player abgestellt und die für den Abend vorgesehenen CDs gestapelt hat. Von diesem Tisch aus führt eine weitere Spur aus Klumpen und Spritzern auf den Flur zurück. Jack hat den Eindruck, dass Henry gefährlich viel Blut verloren haben muss, bevor er es zu wagen können glaubte, wieder unter dem Tisch hervorzukriechen. Falls die Sache so abgelaufen ist.
Während Henry tot oder sterbend dalag, hat der Fisherman etwas aus Stoff genommen – sein Hemd? ein Taschentuch? – und als breiten, unhandlichen Pinsel benützt. Er hat es in die Blutlache hinter dem Sofa getaucht, tropfnass an die Wand
gehoben und ein paar Buchstaben hingemalt. Dann hat er diesen Vorgang mehrmals wiederholt, bis er den letzten Buchstaben seiner Mitteilung an die Wand geschmiert hatte.
HALLO HOLLYWOOD HOHL MICH DOCH
SK SK SK SK
Aber diese höhnischen Monogramme hat weder der Scharlachrote König noch Charles Burnside geschrieben. An die Wand geschmiert hat sie der Herr und Meister des Fisherman, dessen Name für unsere Ohren wie Mr. Munshun klingt.
Keine Sorge, ich erledige dich bald genug, denkt Jack.
Zu diesem Zeitpunkt könnte man es ihm nicht verübeln, wenn er ins Freie zurückliefe, wo die Luft nicht nach Blut und Parfüm stinkt, und sein Handy benützte, um in der Sumner Street anzurufen. Vielleicht hat Bobby Dulac gerade Dienst. Unter Umständen ist sogar Dale noch in der Polizeistation. Um allen seinen Bürgerpflichten zu genügen, brauchte er nur acht, neun Wörter zu sagen. Danach könnte er das Handy wieder einstecken und auf den Stufen vor Henrys Haustür warten, bis die Hüter von Recht und Ordnung die lange Einfahrt heraufgerast kommen. Sie würden in Massen auftreten, mindestens vier Fahrzeuge, vielleicht sogar fünf. Dale würde die State Troopers verständigen müssen, und Brown und Black konnten sich wiederum verpflichtet fühlen, das FBI anzurufen. In ungefähr einer Dreiviertelstunde würde es in Henrys Wohnzimmer von Männern wimmeln, die Maße nahmen, in ihre Notizbücher schrieben, Tatortmarkierungen aufstellten und Blutflecken fotografierten. Auch der Leichenbeschauer und die Spurensicherer würden kommen. Und sobald die erste Stufe von jedermanns unterschiedlichen Aufgaben abgeschlossen war, würden zwei Männer in weißen Jacken eine Bahre durch die Haustür hinaustragen und in den gottverdammten Wagen laden, mit dem sie gekommen sind.
Aber Jack zieht diese Möglichkeit nicht länger als ein paar kurze Augenblicke in Betracht. Er will sehen, was der Fisherman und Mr. Munshun Henry angetan haben – er muss es sehen, ihm bleibt keine andere Wahl. Seine grimmige Trauer
fordert es, und wenn er die Befehle seiner Trauer nicht ausführt, wird er sich nie wieder völlig eins fühlen.
Seine Trauer, die seine Liebe zu Henry Leyden wie ein Stahlsafe umschließt, treibt ihn weiter in den Raum hinein. Jack bewegt sich langsam und sucht sich seinen Weg, wie ein Mann, der einen Bach überschreitet, sich von Stein zu Stein bewegt. Er sucht freie Stellen, auf die er treten kann. Von der Rückwand
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