Das schwarze Haus - King, S: Schwarze Haus
man das Haus Robin Hood Lane Nr. 16 bezeichnen als eine Ode ans Alltägliche, einen Päan ans Prosaische? Das Gleiche könnte man von Dale Gilbertsons Haus oder Jacks oder Henrys Haus sagen, oder nicht? Eigentlich von den meisten Wohnhäusern in der Umgebung von French Landing. Der zerstörerische Wirbelsturm, der durch die Stadt gefegt ist, ändert nichts an der Tatsache, dass die Häuser als tapfere Bollwerke gegen Verwerfungen stehen, ebenso ehrenwert wie bescheiden. Sie sind Orte der Vernunft.
Black House ist – wie Shirley Jacksons Hill House, wie die als Rose Red bekannte, zur Jahrhundertwende in Seattle erbaute Monstrosität – kein Ort der Vernunft. Es ist nicht ganz von dieser Welt. Es ist von außen schwierig zu betrachten – die Augen spielen einem ständig Streiche -, aber wenn es einem gelingt, es für kurze Zeit zu fixieren, sieht man ein dreigeschossiges Wohnhaus von völlig normalen Ausmaßen. Die Farbe ist ungewöhnlich,
ja – dieses glanzlos schwarze Äußere, selbst die Fensterscheiben sind schwarz überstrichen -, und es hat ein geducktes, windschiefes Aussehen, das unbehagliche Zweifel in Bezug auf seine Standfestigkeit aufkommen ließe, aber wenn man es einmal ohne die Ausstrahlung dieser anderen Welten betrachten könnte, würde es fast so gewöhnlich wirken wie Freds und Judys Haus … wenn auch nicht so gepflegt.
Innen ist es jedoch anders.
Innen ist Black House groß .
Tatsächlich ist Black House fast unendlich.
Gewiss kein Ort, an den man sich verirren sollte, obwohl Menschen das von Zeit zu Zeit getan haben – Landstreicher, manchmal ein glückloses von zu Hause ausgerissenes Kind sowie Charles Burnsides (Carl Bierstones) Opfer, und hier und da zeugen Relikte von ihrem Hinscheiden: Reste von Kleidungsstücken, jammervolle Kritzeleien an den Wänden riesiger Räume mit verwirrenden Abmessungen, gelegentlich ein Häufchen Knochen. Ab und zu kann der Besucher vielleicht einen Totenschädel wie die sehen, die Anfang der Zwanzigerjahre während Fritz Haarmanns Schreckensherrschaft in Hannover an den Ufern der Leine angeschwemmt wurden.
Dies ist wahrlich kein Ort, an dem man sich verirren möchte.
Wir wollen durch Räume und Ecken und Korridore und Winkel streifen – in dem sicheren Bewusstsein, dass wir auf Wunsch jederzeit in die äußere Welt, in die vernünftige Welt ohne Verwerfungen zurückkehren können (und trotzdem ist uns weiter unbehaglich zumute, während wir Treppen hinuntersteigen, die nahezu endlos zu sein scheinen, und Korridoren folgen, die in der Ferne zu einem Punkt zusammenschrumpfen). Wir hören ein ständiges tiefes Summen und das leise Scheppern unheimlicher Maschinen. Wir hören das idiotische Pfeifen des stetigen Windes, der entweder draußen oder auf den Ebenen über oder unter uns weht. Manchmal hören wir ein schwaches, hündisches Bellen, das zweifellos die Stimme des Höllenhundes des Abbalah ist, der den armen alten Mouse erledigt hat. Und manchmal hören wir das spöttische Krächzen einer Rabenkrähe und begreifen, dass auch Gorg hier ist – irgendwo.
Wir kommen durch Räume, die in Trümmern liegen, und Räume, die nach wie vor mit verblichenem, vermoderten Prunk möbliert sind. Viele von diesen Sälen sind gewiss größer als das gesamte Haus, in dem sie sich verbergen. Und schließlich erreichen wir ein bescheidenes Wohnzimmer, das mit einem ältlichen Rosshaarsofa und verblassten roten Samtstühlen eingerichtet ist. In der Luft liegen widerwärtige Kochdüfte. (Irgendwo in der Nähe befindet sich eine Küche, die wir nie betreten dürfen – jedenfalls nicht, wenn wir jemals wieder ohne Albträume schlafen wollen.) Die Elektroinstallation und die Lampen in diesem Raum sind mindestens siebzig Jahre alt. Wie kann das sein, fragen wir, wo Black House doch erst in den Siebzigerjahren erbaut wurde? Die Antwort ist ganz einfach: Vieles vom Black House – der größte Teil von Black House – steht schon viel länger hier. Die schweren Samtvorhänge in diesem Raum sind verblichen. Abgesehen von den vergilbten Zeitungsausschnitten, die jemand an die hässliche grüne Tapete geklebt hat, handelt es sich hier um einen Raum, der gut ins Erdgeschoss des Hotels Nelson passen würde. Es ist ein Ort, der Unheil verkündend und zugleich eigentümlich banal wirkt, ein angemessener Spiegel für die Fantasie des alten Ungeheuers, das sich hier verkrochen hat, das Ungeheuer, das mit unheilvoll blutrot verfärbter Hemdbrust auf dem Rosshaarsofa schläft.
Weitere Kostenlose Bücher