Das schwarze Haus - King, S: Schwarze Haus
und jetzt erst merkt er, dass er in Schweiß gebadet ist.
»Judy? Jude?«
Noch immer keine Antwort. Fred hastet durch die Diele in die Küche, wo er sie üblicherweise am ehesten antrifft, wenn er vormittags noch einmal heimkommt, weil er irgendwas vergessen hat.
Die Küche ist leer und sonnendurchflutet. Tisch und Küchentheke sind sauber; die Küchengeräte blitzen; auf der Abtropffläche
neben dem Ausguss stehen zwei frisch abgewaschene Kaffeetassen, die in der Sonne glitzern. Weitere Sonnenreflexe kommen von einem Häufchen Glasscherben, die in einer Ecke liegen. Fred sieht auf einer Scherbe einen Blumenaufkleber und erkennt daran, dass das die Vase vom Fensterbrett war.
»Judy?«, ruft er wieder. Er fühlt den Puls an Kehle und Schläfen pochen.
Sie gibt keine Antwort, aber auf einmal hört er sie oben. Sie singt.
»Rock-a-bye baby … on the treetop … when the wind blows …«
Fred erkennt das Lied, aber statt beim Klang ihrer Stimme erleichtert zu sein, fröstelt er nur noch mehr. Sie hat es Tyler immer vorgesungen, als er noch klein war. Tys Wiegenlied, hat sie es genannt. Fred hat dieses Lied schon jahrelang nicht mehr von ihr gehört.
Er geht durch die Diele zur Treppe zurück und nimmt jetzt wahr, was er im Vorbeihasten übersehen hat. Der Druck Chris tina’s World von Andrew Wyeth ist abgehängt und an die Fußleistenheizung gestellt worden. Die Tapete unter dem Bilderhaken ist an mehreren Stellen bis auf die Wandfaserplatte darunter abgekratzt. Fred, der nun noch mehr fröstelt, weiß genau, dass Judy das getan hat. Dahinter steckt keine eigentliche Intuition, auch keine logische Schlussfolgerung. Man könnte es die Telepathie lange Verheirateter nennen.
Von oben ist eine schöne, tonrein singende Stimme zu hören, die zugleich völlig sinnentleert klingt: »… the craddle will rock. When the bough breaks, the craddle will fall …«
Fred nimmt jeweils zwei Stufen auf einmal, ruft dabei ihren Namen.
Im oberen Flur haben sie über die Jahre eine Galerie ihrer Vergangenheit aufgehängt: Fred und Judy vor dem Madison Shoes, einem Blues-Club, in dem sie manchmal waren, wenn im Chocolate Watchband nichts Interessantes los war; Fred und Judy im Kreis ihrer lächelnden Angehörigen beim Brautwalzer auf ihrer Hochzeit; Judy in einem Krankenhausbett, erschöpft, aber glücklich, mit dem neugeborenen Ty im Arm; die Aufnahme von der Farm der Familie Marshall, über die sie
immer die Nase rümpfte; und vieles mehr. Jetzt bietet der Flur ein erschreckendes Bild der Verwüstung.
Die meisten der gerahmten Fotos sind abgenommen worden. Manche – wie die Aufnahme von der Farm – sind offenbar zu Boden geschmettert worden. Der ganze Flur ist mit glitzernden Glasscherben übersät. Und sie hat die Tapete hinter einem halben Dutzend Bilder zerkratzt. Wo das Krankenhausfoto von Judy und Ty gehangen hat, ist das Papier fast völlig abgerissen, und er sieht, wo ihre Fingernägel sich in die Wandfaserplatte darunter gegraben haben. Einige dieser Kratzer sind mit antrocknenden Blutflecken gesprenkelt.
»Judy! Judy! «
Die Tür von Tylers Zimmer steht offen. Fred spurtet den Flur entlang. Unter seinen Sohlen knirschen Glassplitter.
»… and down will come Tyler, craddle and all.«
»Judy! Ju…«
Er steht an der Tür und bringt vorübergehend kein einziges Wort mehr heraus.
Tys Zimmer sieht nach einer gewalttätigen Durchsuchung aus, wie man sie aus Kriminalfilmen kennt. Die Kommodenschubladen sind herausgerissen worden und liegen im ganzen Raum verstreut, die meisten ausgeleert. Die Kommode selbst ist von der Wand abgerückt worden. Überall liegen Klamotten herum: Jeans und T-Shirts und Unterwäsche und weiße Sportsocken. Der Kleiderschrank steht offen, und weitere Kleidungsstücke sind von ihren Bügeln gerissen worden; dieselbe eheliche Telepathie wie zuvor sagt ihm, dass sie Tys Hosen und Oberhemden herabgerissen hat, um sich zu vergewissern, dass sich dahinter nichts verbirgt. Das Jackett von Tylers einzigem Anzug hängt schief über dem Türknopf des Kleiderschranks. Seine Poster sind von den Wänden gefetzt worden; Mark McGwire ist mitten durchgerissen. In allen Fällen bis auf einen hat sie die Tapete hinter den Postern in Ruhe gelassen, die einzige Ausnahme ist dafür aber sehenswert. In dem Rechteck hinter dem Plakat mit dem Schloss (KEHRT HEIM INS ALTE LAND) ist die Tapete fast völlig abgerissen. Auf der Wandfaserplatte darunter sind viele weitere Blutspuren zu erkennen.
Judy Marshall hockt
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