Das schwarze Haus - King, S: Schwarze Haus
auf die Brust legen muss, um sich zu vergewissern, dass sie überhaupt atmet.
Fred betrachtet das Schlafmittel, wägt das Für und Wider ab, dann rüttelt er sie wach. »Judy! Jude! Wach kurz auf, Schatz. Damit ich dir kurz eine Pille geben kann, okay?«
Sie gibt keinen Laut von sich, und Fred legt die Kapsel auf den Nachttisch. Judy wird sie vorerst wohl nicht brauchen. Dass sie so rasch eingeschlafen ist und so tief schläft, erfüllt ihn mit schwachem Optimismus. Ihm kommt es so vor, als wäre irgendein schlimmes Geschwür geplatzt, hätte sein Gift in sie ergossen und sie müde und geschwächt, aber vielleicht auch wieder genesend zurückgelassen. Könnte das sein? Fred weiß es nicht, aber er weiß bestimmt, dass sie sich nicht etwa nur schlafend stellt. Judys gegenwärtige Probleme haben alle mit Schlaflosigkeit begonnen; Schlaflosigkeit ist von Anfang an die einzige Konstante gewesen. Während sie erst seit einigen Monaten beunruhigende Symptome hat erkennen lassen – Selbstgespräche und diese merkwürdige, ziemlich absto ßende Angewohnheit mit der Zunge, um nur zwei davon zu erwähnen -, hat sie bereits seit Januar schlecht geschlafen. Daher das Schlafmittel. Jetzt scheint sie endlich umgekippt zu sein. Und darf man nicht hoffen, dass ihre normale frühere Persönlichkeit zurückkehren wird, wenn sie aus einem normalen Schlaf erwacht? Dass nur ihre Sorgen um die Sicherheit ihres Sohns während des Fisherman-Sommers sie in eine Art Krise gestürzt haben? Vielleicht, vielleicht auch nicht … Jedenfalls hat Fred jetzt Zeit, darüber nachzudenken, was als Nächstes zu tun ist, und er will diese Zeit gut nutzen. Eines erscheint ihm unbestreitbar: Ist Ty hier, wenn seine Mutter wieder aufwacht, wird der Junge eine sehr viel glücklichere
Mutter haben. Daraus ergibt sich unmittelbar die Frage, wie er Ty möglichst schnell finden kann.
Sein erster Gedanke ist, bei Tys Freunden anzurufen. Das wäre einfach: Ihre Telefonnummern hängen in Judys gut lesbarer, leicht schräger Schrift notiert am Kühlschrank – ebenso wie die Nummern von Feuerwehr, Polizei (mit Dale Gilbertsons Privatnummer; er ist ein alter Freund) und Notarzt. Aber Fred braucht nur einen Augenblick, um sich klar zu werden, dass das keine gute Idee ist. Ebbies Mutter ist tot, und sein Vater ist ein unangenehmer Schwachkopf – Fred hat nur einmal ein paar Worte mit ihm gewechselt, aber dieses eine Mal war mehr als genug. Fred mag es nicht sehr, wenn Judy manche Leute als »Minderbemittelte« einstuft (Für wen hältst du dich eigentlich , hat er sie einmal gefragt, für die gottverdammte Frau Königin?), aber auf Pete Wexler passt dieses Etikett. Der hat bestimmt keine Ahnung, wo die Jungen heute sind, und es wird ihm auch egal sein.
Mrs. Metzger und Ellen Renniker könnten es wissen, aber Fred, der selbst einmal ein Junge mit Sommerferien war – in denen einem die ganze Welt zu Füßen liegt und man zweitausend Orte kennt, an denen man sich herumtreiben kann -, bezweifelt das sehr. Denkbar wäre, dass die Jungen bei den Metzgers oder Rennikers zu Mittag essen (der Zeitpunkt dafür rückt allmählich heran), aber lohnt es sich, wegen dieser vagen Möglichkeit zwei Frauen in Angst und Schrecken zu versetzen? Sie würden als Erstes nur an den Killer denken, und das darf er ihnen auf keinen Fall antun.
Während Fred wieder neben seiner Frau auf der Bettkante sitzt, beginnt er das erste wirkliche Kribbeln von Sorge um seinen Sohn zu spüren, weist es aber brüsk von sich. Es ist nicht der richtige Zeitpunkt, um sich von unbestimmten Ängsten kribbelig machen zu lassen. Er muss daran denken, dass zwischen den mentalen Problemen seiner Frau und der Sicherheit seines Sohnes keinerlei Zusammenhang besteht – außer in Judys Vorstellung. Seine Aufgabe ist es, Ty in einwandfreier Verfassung zu präsentieren, um ihr so zu beweisen, dass ihre Ängste unbegründet sind.
Ein Blick auf den Radiowecker auf dem Nachttisch zeigt
Fred, dass es 11.15 Uhr ist. Wie die Zeit verfliegt, wenn man sich herumtreibt, denkt er. Neben ihm gibt Judy einen einzelnen japsenden Schnarchlaut von sich. Es ist ein leiser, wirklich ganz damenhafter Laut, aber Fred fährt trotzdem zusammen. Wie sie ihn erschreckt hat, als er sie zuerst in Tys Zimmer gesehen hat! Er ist immer noch verängstigt.
Vielleicht kommen Ty und seine Freunde zum Mittagessen ja auch hierher. Judy sagt, dass sie oft kommen, weil die Metzgers nicht viel zu essen haben und Mrs. Renniker meistens etwas
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