Das schwarze Haus - King, S: Schwarze Haus
auf der nackten Matratze von Tylers
Bett. Mit dem Kopfkissen obendrauf liegt die Bettwäsche zusammengeknüllt in einer Ecke. Das Bett selbst ist von der Wand weggezerrt worden. Judy hält den Kopf gesenkt. Fred kann ihr Gesicht nicht sehen – das Haar verbirgt es -, aber sie trägt Shorts, und er kann die Blutspritzer und -streifen auf ihren sonnengebräunten Schenkeln sehen. Sie hält die Hände unterhalb der Knie gefaltet, wo Fred sie nicht sehen kann, und er ist froh darüber. Er will nicht sehen müssen, wie schlimm sie sich verletzt hat, bevor es unbedingt sein muss. Das Herz hämmert ihm in der Brust, das Nervensystem arbeitet wegen Adrenalinüberlastung an der Drehzahlgrenze, und im Mund hat er einen Geschmack wie von einer durchgebrannten Sicherung.
Sie setzt wieder an, den Refrain von Tys Wiegenlied zu singen, aber er kann’s nicht länger ertragen. »Judy, nein«, sagt er und nähert sich ihr durch das wüste Minenfeld, das noch gestern Abend, als er hineingegangen ist, um Ty einen Gutenachtkuss zu geben, das halbwegs aufgeräumte Zimmer eines kleinen Jungen war. »Hör auf, Schatz, ich bin da.«
Erstaunlicherweise hört sie auf. Sie hebt den Kopf, und als er das Entsetzen in ihrem Blick sieht, verlässt ihn der letzte Rest Kraft, den er sich noch bewahrt hat. Das hier ist mehr als nur Entsetzen. Das ist eine Leere , als wäre etwas in ihrem Inneren zur Seite geglitten und hätte ein schwarzes Loch freigegeben.
»Ty ist fort«, sagt sie einfach. »Ich habe hinter so viele Bilder gesehen, wie ich nur konnte … Ich war mir sicher, dass er hinter dem hier sein würde … Wenn er irgendwo wäre, würde er hinter dem hier sein …«
Sie zeigt auf die Stelle, wo das irische Reiseplakat gehangen hat, und er sieht, dass vier Fingernägel ihrer linken Hand ganz oder teilweise abgerissen sind. Sein Magen macht einen Handstandüberschlag. Ihre Finger sehen aus wie in rote Tinte getaucht. Wenn’s nur Tinte wäre, denkt Fred. Wenn’s nur …
»… aber es ist natürlich nur ein Bild. Das sind alles nur Bilder. Das weiß ich jetzt.« Sie macht eine Pause, dann ruft sie aus: »Abbalah! Munshun! Abbalah-gorg, Abbalah-doon!« Ihre Zunge kommt heraus – kommt zu unglaublicher, cartoonhafter Länge heraus – und wischt mit Speichel benetzt
über die Nasenspitze. Das sieht Fred, aber er kann es nicht glauben. Er kommt sich vor wie jemand, der mitten in einen Horrorfilm gerät, entdecken muss, dass der Film Wirklichkeit ist, und jetzt nicht weiß, was er tun soll. Was soll er denn tun? Was soll man tun, wenn man entdeckt, dass die Frau, die man liebt, verrückt geworden ist oder zum Allermindesten den Bezug zur Realität verloren hat?
Aber er liebt sie, hat sie seit der ersten Woche nach ihrem Kennenlernen geliebt – hilflos und absolut und seither ohne das geringste Bedauern – und lässt sich jetzt von Liebe leiten. Er setzt sich neben sie, legt einen Arm um sie und hält sie einfach nur umarmt. Er fühlt sie von innen heraus zittern. Ihr Körper vibriert wie eine Saite.
»Ich liebe dich«, sagt er und ist von seiner Stimme überrascht. Erstaunlich, dass aus einem solchen Chaos aus Angst und Verwirrung scheinbare Ruhe kommen kann. »Ich liebe dich, und alles kommt wieder in Ordnung.«
Sie sieht zu ihm auf, und ein gewisser Ausdruck tritt ihr wieder in die Augen. Fred kann ihn nicht als Vernunft bezeichnen (so gern er das auch täte), aber er zeugt zumindest von einer Art marginalem Bewusstsein. Sie weiß, wo sie ist und wer bei ihr ist. Sekundenlang sieht er Dankbarkeit in ihrem Blick. Dann verzerrt erneut unerträglicher Schmerz das Gesicht, und sie beginnt zu weinen. Das Weinen hat einen erschöpften, hoffnungslosen Klang, der ihm das Herz zerreißt. Nerven, Herz und Verstand, alles schmerzt.
»Ty ist fort«, sagt Judy. »Der Gorg hat ihn gelockt, und der Abbalah hat ihn verschleppt. Abbalah-doon!« Tränen laufen ihr übers Gesicht. Als sie die Hände hebt, um die Tränen wegzuwischen, hinterlassen die Finger erschreckende Blutspuren.
Obwohl er davon überzeugt ist, dass Tyler nichts fehlt ( Fred jedenfalls hat heute keine Vorahnungen, wenn wir einmal von seiner optimistischen Verkaufsprognose für die neue Hiler-Fräse absehen), durchläuft ihn beim Anblick dieser Blutspuren ein plötzlicher Schauder, der aber nicht durch Judys Zustand, sondern durch das ausgelöst wird, was sie eben gesagt hat: Ty ist fort. Ty ist mit seinen Freunden unterwegs; er hat Fred erst gestern Abend erzählt, dass er
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