Das schwarze Haus - King, S: Schwarze Haus
auch immer in Reader’s Digest, obwohl Pete bezweifelt, dass es sich in seinem Beruf sehr lohnen würde.
Als er wieder in den Gemeinschaftsraum hinausgeht, ist der blinde Plattenkramer – Mr. Leyden, Symphonic Stan, wer zum Teufel er auch ist – dabei, die Kabel zu entwirren und mit einem Tempo und einer Zielsicherheit einzustecken, die Pete leicht entnervend findet.
Der arme alte Fred Marshall hat einen schrecklichen Traum. Das Wissen, dass dies nur ein Traum ist, müsste ihn eigentlich weniger grässlich machen, aber das tut es irgendwie nicht. Er ist mit Judy in einem Boot auf einem See unterwegs. Judy sitzt vorn im Bug. Sie angeln. Zumindest angelt er; Judy hält nur ihre Angelrute in der Hand. Ihr Gesicht ist ausdruckslos leer. Ihre Haut ist wächsern. Ihr Blick ist wie betäubt, erschlagen. Er müht sich zunehmend verzweifelt ab, mit ihr in Verbindung zu treten, indem er eine Gesprächseröffnung nach der anderen ausprobiert. Keine funktioniert. Um eine unter diesen Umständen
ziemlich treffende Metapher zu gebrauchen, beißt sie bei keinem Köder an. Er sieht, dass ihr leerer Blick den zwischen ihnen auf dem Bootsboden stehenden Fischkorb zu fixieren scheint. Aus dem Flechtwerk sickern breite rote Ströme von Blut.
Das ist nichts, nur Fischblut, versucht er sie zu beruhigen, aber sie gibt keine Antwort. In Wirklichkeit ist Fred sich seiner Sache selbst nicht so sicher. Als er überlegt, ob er nicht doch einen Blick in den Fischkorb werfen soll, nur um sicherzugehen, ruckt etwas gewaltig an seiner Rute – wären seine Reflexe nicht so gut, wäre sie ihm aus den Händen gerissen worden. Er hat einen großen Fisch an der Angel!
Fred holt die Leine ein, wobei der Fisch am anderen Ende auf jedem Meter erbitterten Widerstand leistet. Als er ihn dann endlich in Bootsnähe hat, merkt er, dass er keinen Kescher hat. Zum Teufel damit, denkt er, setz alles auf eine Karte. Er reißt die Rute nach hinten – die Leine soll sich nur trauen, jetzt zu reißen -, und der Fisch, die gottverdammt größte Seeforelle, die man je zu sehen hoffen kann, fliegt aus dem Wasser und in einem glitzernden, flossenzappelnden Bogen durch die Luft. Der Fisch landet auf dem Bootsboden (sogar unmittelbar neben dem triefenden Fischkorb) und fängt an, sich herumzuwerfen. Und er fängt an, grausige Erstickungslaute von sich zu geben. Fred hat noch nie gehört, dass ein Fisch solche Laute von sich gibt. Er beugt sich nach vorn und sieht zu seinem Entsetzen, dass die Forelle Tylers Gesichtszüge hat. Sein Sohn ist irgendwie zu einer Wer-Forelle geworden und stirbt jetzt auf dem Bootsboden. Erstickt.
Fred packt sie, will den Angelhaken entfernen und sie zurückwerfen, solange noch Zeit dafür ist, aber das grässlich röchelnde Ding rutscht ihm immer wieder durch die Finger und hinterlässt nur eine schleimige Schuppenspur. Ohnehin wäre es schwierig, den Haken herauszubekommen. Der Ty-Fisch hat ihn ganz verschluckt, und die mit Widerhaken versehene Spitze ragt dicht unter der Stelle, wo das Menschengesicht schwindet, aus den Kiemen. Tys Röcheln wird lauter, rauer, unendlich grausiger …
Fred setzt sich mit einem leisen Schrei auf und hat das Gefühl, auch er müsste ersticken. Einen Augenblick lang ist er in Bezug auf Ort und Zeit völlig desorientiert – in Verwerfungen verirrt, könnten wir sagen -, dann erkennt er, dass er im Schlafzimmer auf der Kante des Bettes sitzt, das er mit Judy teilt.
Ihm fällt auf, dass das Zimmer jetzt viel düsterer wirkt, weil die Sonne auf die andere Seite des Hauses gewandert ist. Mein Gott, denkt er, wie lange habe ich geschlafen? Wie konnte ich ...
Oh, da ist noch etwas anderes: das grausige Röcheln, das ihm aus seinem Traum gefolgt ist. Es ist sogar lauter als zuvor. Es wird Judy wecken, sie ängstigen …
Aber Judy liegt nicht mehr auf dem Bett.
»Jude? Judy? «
Sie hockt in einer Ecke. Ihre weit aufgerissenen Augen sind leer, genau wie in seinem Traum. Aus ihrem Mund quillt ein Strauß aus zusammengeknülltem Papier. Ihr grotesk angeschwollener Hals erinnert Fred an eine Grillwurst, deren Haut gleich platzen wird.
Das Papier, denkt er. Jesus, sie erstickt daran!
Fred wälzt sich übers Bett, fällt über die Kante und landet wie ein Bodenturner bei einer schwierigen Übung auf allen vieren. Er greift nach ihr. Sie macht keine Bewegung, um sich ihm zu entziehen. Das ist immerhin etwas. Obgleich sie zu ersticken droht, sind ihre Augen immer noch ausdruckslos. Sie sind glanzlose
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