Das schwarze Haus - King, S: Schwarze Haus
Nullen.
Fred reißt ihr den Papierstrauß aus dem Mund. Dahinter steckt ein zweiter. Fred greift ihr zwischen die Zähne, drückt die Papiermasse mit Daumen und Zeigefinger der rechten Hand zusammen (wobei er denkt: Bitte, beiß mich nicht, Judy, bitte nicht ) und zieht sie ebenfalls heraus. Ganz hinten in ihrem Rachen steckt eine dritte Papierkugel, die er ebenfalls herausholt. Obwohl sie zusammengeknüllt ist, sieht er die gedruckten Wörter GROßARTIGE IDEE und weiß, woran sie würgt: an Blättern des Notizblocks, den Ty ihr zum Geburtstag geschenkt hat.
Sie röchelt weiter. Ihre Haut beginnt sich schiefergrau zu verfärben.
Fred packt sie an den Oberarmen und zieht sie hoch. Das geht ganz leicht, aber als er loslässt, knicken ihr die Knie ein, und sie sackt wieder zusammen. Judy hat sich in eine schlaffe Stoffpuppe verwandelt. Sie röchelt weiter. Ihr angeschwollener Hals...
»Hilf mir, Judy! Hilf mir, du Miststück!«
Er merkt gar nicht, was er sagt. Er reißt sie hoch – so heftig, wie er in seinem Traum die Angelrute hochgerissen hat – und wirbelt sie, während sie auf den Zehenspitzen steht, wie eine Ballerina herum. Dann umschlingt er sie von hinten, sodass seine Handgelenke die Unterseite ihrer Brüste streifen und ihr Gesäß gegen seinen Unterleib gepresst ist, eine Stellung, die er für äußerst sexy halten würde, wenn seine Frau nicht gerade dem Ersticken nahe wäre.
Fred reckt wie ein Anhalter einen Daumen zwischen ihren Brüsten hoch, dann sagt er das Zauberwort, während er mit dem Daumen nach oben und hinten ruckt. Das Zauberwort heißt Heimlich-Handgriff, und es funktioniert. Zwei weitere Papierklumpen fliegen Judy aus dem Mund – von einem dünnen Strom aus Erbrochenen angetrieben, das kaum mehr als Magensaft ist, weil sie in den letzten zwölf Stunden nur drei Tassen Kaffee und ein Preiselbeertörtchen zu sich genommen hat.
Sie schnappt nach Luft, hustet zweimal und beginnt dann, mehr oder weniger gleichmäßig zu atmen.
Er legt sie aufs Bett … lässt sie einfach aufs Bett fallen. Krampfartige Schmerzen zucken ihm durchs Kreuz, was wirklich kein Wunder ist: erst Tys Kleiderschrank, jetzt das hier.
»Was hast du dir eigentlich dabei gedacht?«, fragt er sie laut. »Was um Himmels willen hast du dir dabei gedacht? «
Er merkt, dass er eine Hand über Judys emporgewandten Gesicht erhoben hat, als wollte er sie schlagen. Ein Teil seines Ichs will sie auch schlagen. Er liebt sie, aber in diesem Augenblick hasst er sie auch. In den Jahren ihrer Ehe hat er sich alle möglichen schlimmen Dinge ausgedacht – Judy an Krebs erkrankt, Judy nach einem Unfall gelähmt, Judy, die sich erst einen Liebhaber nimmt und dann die Scheidung verlangt -, aber er hat sich nie vorstellen können, dass Judy ihn feig im Stich lassen würde, und hat sie das nicht praktisch getan?
»Was hast du dir dabei gedacht? «
Sie erwidert seinen Blick ohne Angst … aber auch ohne irgendetwas anderes. Die Augen sind glanzlos. Fred lässt die Hand sinken, denkt dabei: Ich würde sie mir abhacken, bevor ich dich schlage. Ich bin vielleicht zornig auf dich, ich bin zornig auf dich, aber ich würde sie mir abhacken, bevor ich dich schlage.
Judy wälzt sich herum, liegt nun mit dem Gesicht nach unten auf der Tagesdecke, sodass das Haar den Kopf wie ein Strahlenkranz umgibt.
»Judy?«
Nichts. Sie liegt einfach nur da.
Fred starrt sie einen Augenblick lang an, dann faltet er eine der schleimigen Papierkugeln auseinander, mit denen sie sich zu ersticken versucht hat. Das Papier ist mit einem Gewirr aus hingekritzelten Wörtern bedeckt. Gorg, Abbalah, Eeleelee, Munshun, Bas, Lum, Opopanax, alles nichts, was ihm etwas sagen würde. Andere – dahinschleppen, Arschgeige, schwarz, rot, Chicago und Ty – sind richtige Wörter, aber jeglicher Kontext fehlt. An einem Rand des Blatts steht in Druckbuchstaben: HADDU MöHREN? MUDDU ESSEN. Am gegenüberliegenden Rand steht wie von einem Fernschreiber mit klemmender Wiederholfunktion geschrieben: SCHWARZES HAUS SCHARLACHROTER KÖNIG SCHWARZES HAUS SCHARLACHROTER KÖNIG SCHWARZES HAUS SCHARLACHROTER KÖNIG
Wenn du deine Zeit damit vergeudest, darin einen Sinn zu suchen, bist du genau so verrückt wie sie, denkt Fred. Du darfst deine Zeit …
Zeit.
Fred sieht auf den Radiowecker und will nicht glauben, was dieser anzeigt: 16.17 Uhr. Ist das möglich? Ein Blick auf seine Armbanduhr bestätigt ihm jedoch, dass der Wecker richtig geht.
Obwohl er weiß, dass das töricht ist,
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