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Das schwarze Manifest

Das schwarze Manifest

Titel: Das schwarze Manifest Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frederick Forsyth
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Trinken fast als Männlichkeitsbeweis galt, war ein russischer Abstinenzler eine Seltenheit. Jefferson, der mehrere Videofilme von Komarow in seiner Rolle als Mann des Volkes kannte, hatte ihn mit dem obligatorischen Glas in der Hand nach russischer Sitte unzählige Trinksprüche erwidern gesehen, ohne daß ihm die geringste Wirkung anzumerken gewesen wäre. Er konnte nicht ahnen, daß Komarows Glas stets nur Wasser enthielt. An diesem Abend wurde als einziges Getränk Kaffee angeboten, den Jefferson dankend ablehnte.
    Nach fünf Minuten kam Igor Komarow herein: eine imposante Erscheinung von etwa fünfzig Jahren, grauhaarig, knapp unter einsachtzig groß und mit haselnußbraunen Augen, deren leicht starren Blick seine Anhänger als »hypnotisch« schilderten.
    Kusnezow sprang eifrig auf, und Jefferson erhob sich etwas langsamer. Der PR-Berater machte die beiden Männer miteinander bekannt, und sie schüttelten sich die Hand. Komarow nahm als erster in einem Chesterfield-Ledersessel Platz, der etwas höher als die Sessel der anderen war.
    Jefferson zog ein Diktiergerät aus der Brusttasche seines Blazers und fragte, ob gegen seine Benutzung Einwände bestünden. Komarow neigte den Kopf, als wolle er andeuten, er verstehe die Unfähigkeit der meisten westlichen Journalisten, sich stenographische Notizen zu machen. Kusnezow nickte Jefferson aufmunternd zu, er solle anfangen.
    »Mr. President, die innenpolitische Nachricht der Stunde ist die kürzlich getroffene Entscheidung der Duma, die Amtsperiode des amtierenden Präsidenten um drei Monate zu verlängern, aber zugleich den Wahltermin im kommenden Jahr auf Januar vorzuverlegen. Wie sehen Sie diese Entscheidung?«
    Kusnezow übersetzte rasch und hörte dann zu, während Komarow in sonorem Russisch antwortete. Als er ausgesprochen hatte, wandte der Dolmetscher sich an Jefferson.
    »Ich und die Union Patriotischer Kräfte finden diese Entscheidung natürlich enttäuschend, aber als Demokraten akzeptieren wir sie. Ich verrate Ihnen sicher kein Geheimnis, Mr. Jefferson, wenn ich sage, daß die Dinge in diesem Land, das ich leidenschaftlich liebe, nicht zum besten stehen. Unfähige Regierungen haben allzu lange ein hohes Maß an Verschwendung, Korruption und Verbrechen toleriert. Unser Volk leidet. Je länger dieser Zustand andauert, desto schlimmer wird alles. Daher ist die Verzögerung bedauerlich. Ich glaube, daß wir die Präsidentenwahl im Oktober hätten gewinnen können, aber wenn wir bis Januar warten müssen, werden wir sie eben im Januar gewinnen.«
    Mark Jefferson war ein viel zu erfahrener Interviewer, um nicht zu merken, daß diese Antwort zu vorbereitet, zu eingeübt klang, als komme sie von einem Politiker, dem diese Frage schon so oft gestellt worden war, daß er die Antwort auswendig herunterleiern konnte. In England und Amerika war es üblich, daß Politiker mit Journalisten, von denen sie viele mit Vornamen kannten, weit unverkrampfter umgingen. Jefferson war stolz auf seine Fähigkeit, ausgewogene Wortporträts zu zeichnen, indem er die Äußerungen seines Interviewpartners und seine eigenen Eindrücke zu einem richtigen Zeitungsartikel vereinigte, anstatt nur eine Litanei politischer Gemeinplätze zu bringen. Aber dieser Mann hatte etwas Roboterhaftes an sich.
    Aus eigener Erfahrung wußte der Journalist, daß osteuropäische Politiker weit mehr Respekt von Pressevertretern gewöhnt waren als ihre englischen oder amerikanischen Kollegen. Aber dies war etwas anderes. Der Russe war steif und förmlich wie eine Schneiderpuppe.
    Nach der dritten Frage erkannte Jefferson den Grund dafür: Komarow haßte offenbar die Medien und den ganzen Vorgang, interviewt zu werden. Der Londoner versuchte, eine ungezwungen scherzhafte Note ins Gespräch zu bringen, aber der Russe ließ nicht einmal die Andeutung eines Lächelns erkennen. Ein Politiker, der sich selbst sehr ernst nahm, war nichts Neues, aber dieser Mann war von fanatischer Selbstachtung erfüllt. Er gab seine Antworten weiter wie einstudiert.
    Jefferson sah leicht verwirrt zu Kusnezow hinüber. Obwohl der junge PR-Berater und Dolmetscher, der offenbar in Amerika studiert hatte, zweisprachig, aufgeschlossen und weltmännisch war, behandelte er Igor Komarow mit geradezu hündischer Ergebenheit. Jefferson nahm einen neuen Anlauf.
    »Wie Sie natürlich wissen, Sir, liegt in Rußland die wahre Macht größtenteils in den Händen des Präsidenten, der damit mehr Macht als der amerikanische Präsident oder der

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