Das Schweigen der Miss Keene (German Edition)
müssen es wissen. Sie haben selbst zwei Mütter verloren.«
Zum ersten Mal gestand er sich diese Wahrheit ein. »Ja, ich vermute, das ist so.«
Schweigend saßen sie einen langen Moment nebeneinander.
Edward zögerte. »Es tut mir leid, dass ich Sie hier festgehalten habe. Dass ich Sie daran gehindert habe, nach Hause zurückzukehren.«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich hätte ohnehin nicht nach Hause gehen können. Und jetzt … wenn es wahr ist, was Talbot gehört hat … gibt es für mich kein Zuhause mehr, in das ich zurückkehren könnte.«
Er wusste nicht, was er dazu sagen sollte, und hielt einfach weiter ihre Hand.
Einen Augenblick später bemerkte sie: »Mr Tugwell sagte mir einmal, er bete dafür, dass Gott alles zum Guten dienen lasse. Aber mir ist nicht klar, wie das jetzt noch gelingen sollte.«
Mir auch nicht , dachte Edward, aber er verzichtete darauf, es auszusprechen.
27
Ich sitze am Abend allein im Schulzimmer. Ich wäre wirklich sehr froh über etwas Gesellschaft, es wäre ein solches Vergnügen.
Miss Ellen Weeton, Journal of a Governess, 1811-1825
Olivia unterdrückte ihre Traurigkeit und bemühte sich, den üblichen Zeitplan einzuhalten, denn sie wusste, dass die Kinder Ordnung und Regelmäßigkeit zum Gedeihen brauchten. Schlafenszeit pünktlich um halb acht war die Regel, obwohl Mrs Howe ihren Ablauf oft störte, indem sie hereinkam, nachdem die Kerzen schon gelöscht waren, um Alexander »nur noch einmal« zu küssen.
Wenn sie da war, wünschte sie Audrey und Andrew »eine gute Nacht« oder »schöne Träume« und beide Kinder – vor allem Andrew – strahlten sie an. Gelegentlich blieb Judith neben seinem Bett stehen und legte ihre Hand auf Andrews Kopf, wie es auch Lord Bradley oft tat, und zerzauste sein Haar. Der vergnügte Blick des Jungen versetzte Olivia immer einen Stich. Merkte die Frau nicht, wie sehr sie es in der Hand hatte, die Kinder glücklich oder unglücklich zu machen?
Da Olivia nicht entging, wie sehr sich ihre Zöglinge über diese abendlichen Besuche freuten, dachte sie nicht daran, sich darüber zu beschweren, selbst wenn sie es sich getraut hätte.
So vergingen die nächsten Winterwochen relativ friedlich und ruhig. Olivias Unsicherheit über das Schicksal ihrer Mutter schwankte zwischen Trauer und Hoffnung. Sie blieb ständig beschäftigt und entwickelte neue, lebendigere Arten, um Andrew zu unterrichten, während Audreys Fortschritte den Methoden zu verdanken waren, die sich in Miss Cresswells Schule bewährt hatten.
Trotzdem hatte Olivia noch nie in ihrem Leben so viel Zeit allein verbracht. Wenn die Kinder abends mit der Familie aßen und nachdem sie im Bett waren, hielt sich Olivia allein im Schulzimmer auf. Es war größer und wärmer als ihr eigenes Zimmer und sie hatte dort mehr Privatsphäre als im Kinderzimmer, das Miss Peale deutlich als ihren Bereich beanspruchte. Im Schulzimmer las Olivia oder nähte im Kerzenlicht. Sie dachte an die feinen Näharbeiten zurück, die ihre Mutter für Mrs Meacham – die Frau des früheren Arbeitgebers von Simon Keene – und in jüngerer Zeit auch für die Frau seines neuen Arbeitgebers übernommen hatte.
Olivia konnte nicht so geschickt mit der Nadel umgehen und brachte auch keine Geduld für diese Kunst auf, aber sie konnte Säume reparieren und Socken stopfen, und so ließ sich die Zeit besser vertreiben als mit Nichtstun.
Sie erinnerte sich wehmütig an die kleinen Kissen und Bettdecken, die sie für Lord Bradleys Puppenhaus angefertigt hatte. Es hatte solchen Spaß gemacht, ihn bei diesem heimlichen Projekt zu unterstützen.
Lord Brightwell hatte eine generelle Einladung an sie ausgesprochen, abends mit ihm in der Bibliothek zusammenzusitzen, doch sie kam nur selten darauf zurück, weil sie dem Klatsch in der Dienerschaft keine Nahrung geben wollte.
Wenn sie nachts im Bett lag, kamen die Zweifel und quälten sie mit endlosen Szenarien, was passiert sein könnte, nachdem sie ihr Zuhause verlassen hatte. Sie machte sich große Sorgen über das Schicksal ihrer Mutter … und ihr eigenes. Und wo war ihr Vater wohl? Einerseits sehnte sie sich danach, dass die Straßen schnell frei wurden, andererseits graute ihr davor, dass ihre schlimmsten Befürchtungen sich bestätigen könnten.
In der Zwischenzeit kehrte sie jeden Morgen nach dem Aufstehen mit Eifer ins Schulzimmer zurück, um sich selbst und ihre Sorgen zu vergessen, während sie die Kinder unterrichtete. Sie fing sogar an, Becky Lesen und
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