Das Schweigen der Miss Keene (German Edition)
seiner Arbeit und meine Mutter unterwegs …«
»Meine Liebe, ich meine nicht, dass zu diesem Zeitpunkt niemand zu Hause war. Ich meine, dass dort schon seit einiger Zeit niemand mehr lebte. Das Haus war verlassen. Ein Nachbar bestätigte es.«
Olivia zuckte zusammen. Bewahrheitete sich ihre Befürchtung, dass ihre Mutter weggegangen und ihr Vater tot war? Aber wenn ihre Mutter das Dorf verlassen hatte, warum war sie dann nicht zur Schule in St. Aldwyns gegangen und von dort nach Brightwell Court geschickt worden? Oder warum hatte sie nicht durch Miss Cresswell erfahren, wo ihre Tochter sich aufhielt, und war direkt zu ihr gekommen?
Lord Brightwell schob seinen Stuhl näher an ihren heran und nahm ihre Hände in seine. »Talbot hat mit einigen Nachbarn gesprochen. Niemand wusste Genaueres, aber es geht das Gerücht um, dass Simon Keene aus dem Dorf geflohen ist, um einer Verhaftung zu entgehen und dass Ihre Mutter …«
Vater lebt. Ich habe ihn nicht getötet. Sie hatte kaum Zeit, Erleichterung über diese Nachricht zu empfinden, bevor eine neue Angst über sie hereinbrach. »Ja?«, fragte sie atemlos.
»Auf dem Friedhof gibt es ein neues Grab, Olivia. Es tut mir sehr leid, Ihnen sagen zu müssen, dass man Dorothea Keene für tot hält.«
Olivia starrte blind vor sich hin. Ihr Herz fühlte sich an, als wäre es in ihrem Inneren zerborsten. Ein pochender Schmerz fuhr durch ihren Körper. Hatte ihr Vater nur überlebt, um dem Leben ihrer Mutter ein Ende zu setzen?
»Der Wachtmeister konnte das Gerücht weder bestätigen noch dementieren. Er sagte Talbot, wenn dieser wissen wolle, wer auf dem Friedhof begraben liege, müsse er sich an den Kirchenaufseher wenden. Dieser Mann verwies ihn an die Dorfhebamme weiter, eine Miss …«
»Miss Atkins.«
»Genau. Aber sie war nicht bereit, Talbot etwas zu erzählen. Sie schien ihm zu misstrauen und sagte, sie sei nicht verpflichtet, Informationen an einen Fremden weiterzugeben. Als Talbot fragte, ob sie wüsste, wo Dorothea Keene war, gab sie nur zur Antwort: ›Sie wird nicht zurückkommen.‹«
»Ich verstehe das nicht«, sagte Olivia mit bebender Stimme. »Da muss etwas schief gelaufen sein. Mir würde Miss Atkins alles sagen, da bin ich sicher.« Sie sprang auf. »Ich muss nach Hause gehen.«
Tiefes Bedauern stand ihm ins Gesicht geschrieben, als der Earl erwiderte: »Meine Liebe, nach dem letzten Schneefall sind die Straßen so gut wie unpassierbar. Sie müssen warten, bis es taut.«
Sie biss sich auf die Lippe und kämpfte gegen die Tränen. »Dann gehe ich bei der ersten Gelegenheit.« Sie eilte zur Tür, dann besann sie sich, drehte sich zu ihm um und fügte steif hinzu: »Danke, dass Sie es mir gesagt haben.«
Edward entdeckte Miss Keene kurz darauf, wie sie weinend auf dem umgestürzten Baumstamm neben dem Fluss saß, die Hände vors Gesicht geschlagen. Er schob den nassen Schnee weg und setzte sich neben sie.
Sie schaute mit rotgeränderten Augen auf. »Hat Lord Brightwell Sie auf die Suche nach mir geschickt? Es tut mir leid, dass ich Ihnen solche Mühe mache.«
»Er hat mich nicht geschickt, Miss Keene«, antwortete Edward mit sanfter Stimme. »Aber er macht sich Sorgen um Sie. Genau wie ich.«
Sie holte zitternd Luft. »Ich danke Ihnen, aber mir wird es gleich wieder besser gehen.«
Er legte den Kopf schräg, um sie genauer zu betrachten. »Gut. Aber ich würde gern hier bei Ihnen bleiben, wenn Sie es erlauben.«
»Hat man wieder Wildhunde gesehen?«
»Nein.«
Sie nickte, während ihr die Tränen über die Wangen liefen. Edward sehnte sich danach, ihr Gesicht zu berühren, ihr die Tränen aus den Augen zu wischen. Aber sie drehte den Kopf weg und schaute auf den Fluss.
Er sagte: »Lord Brightwell hat mir kurz geschildert, was Talbot in Erfahrung gebracht hat und dass das Gerücht umgeht, Ihr Vater habe einen Anteil am Verschwinden Ihrer Mutter. Wenn das stimmt, dann tut es mir sehr leid, dass ich ihn an dem Tag, als wir eislaufen waren, verteidigt habe.« Edward hielt inne. »Halten Sie … so etwas für möglich?«
Sie atmete tief durch. »Noch vor einem Jahr hätte ich es nicht geglaubt. Aber jetzt … ja, es ist möglich, obwohl ich hoffe und bete, dass ich mich irre.«
Er hob ihre kalte Hand und legte sie in seine. Sie hatte nicht darauf geachtet, Handschuhe anzuziehen. Als sie keine Reaktion zeigte, fing er behutsam an, ihren Handrücken zu streicheln.
»Ich weiß«, murmelte er. »Ich weiß.«
»Ja«, flüsterte sie. »Sie
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