Das Schweigen der Miss Keene (German Edition)
Schulkamerad Herbert.« Er lachte. »Der Junge kam nie mit Mathematik zurecht. Ein blasser Junge. Ganz schwarzes Haar. Wie er bei den Prüfungen immer schwitzte! Wir zogen ihn gnadenlos auf.«
»Ich kann es nicht glauben. War er aus London?«
»Stellen Sie sich vor, ich habe seinen Vater an Weihnachten in der Kirche gesehen. Er besuchte seine Schwester, glaube ich.«
Das war der Mann gewesen, den sie an Weihnachten von der Galerie herunter gesehen hatte? Der Mann, der ihr bekannt vorgekommen war, ohne dass sie ihn hätte einordnen können?
»Er lebt in Cheltenham, glaube ich. Aber er erwähnte, dass Herbert irgendwo im Norden ist und sich dort um seine Belange kümmert.«
Olivia zog die Stirn kraus und versuchte sich daran zu erinnern, was sie über den Gentleman und seinen Sohn wusste. »Ich bin nicht überzeugt, dass es derselbe Herbert sein kann. Ich erinnere mich genau, dass sie nur auf der Durchreise nach Harrow und ihrem Zuhause in London waren.«
»Wenn mein Gedächtnis mich nicht im Stich lässt, zogen sie vor ein oder zwei Jahren in die Gegend von Cheltenham.«
Sie reagierte nicht darauf und nach einigen Minuten des Schweigens sagte er in ruhigem Ton: »Es war nicht fair von Ihrem Vater, Sie in eine solche Lage zu bringen, Miss Keene. Aber erkennen Sie nicht, wie viel er Ihnen zugetraut hat? Wie stolz er auf Sie war? Er hätte jedoch sehen müssen, was in Ihnen vorging, als Sie dem armen Herbert erlaubten zu gewinnen. Und er hätte auch dafür auf Sie stolz sein müssen. Es war sehr anständig von Ihnen, besonders wenn man bedenkt, wie jung Sie damals waren.«
»Er war nicht im Mindesten stolz.«
Lord Bradley schaute sie an und sein Blick war weich und verständnisvoll. »Ich sehe, dass Sie keine typische Erziehung hatten und auch keinen typischen Vater, Miss Keene. Aber da Sie mich dazu gebracht haben, die guten Seiten meines Vaters neu zu schätzen, hoffe ich, Sie werden sich selbst eingestehen, dass auch Ihr Vater seine Qualitäten hat.«
»Ich möchte mir das nicht eingestehen.«
Er warf ihr einen überraschten Blick zu. »Warum nicht? Was riskieren Sie dabei?«
»Mehr als Sie ahnen.« Denn wenn sie neben dem Schlechten auch das Gute sah, wie konnte sie dann mit dem Wissen leben, was sie ihrem Vater angetan hatte?
Sie erzählte Lord Bradley nichts von der verwerflichsten Anklage gegen ihren Vater – was er mit ihrer Mutter gemacht hatte, beziehungsweise, was seine Absicht gewesen war. Sie schämte sich zu sehr, um Worte dafür zu finden.
26
Zurechtgewiesen und betrübt fügte ich mich widerwillig in meine Unterrichtsroutine. Wo waren all die romantischen Vorstellungen und stolzen Erwartungen geblieben, mit denen ich meinen Posten als Gouvernante angetreten hatte?
Anna Leonowens, The English Governess at the Siamese Court
Die ganze Nacht über hallten Miss Keenes Worte wieder und wieder durch Edwards Kopf. »Was haben Sie sonst noch zu tun, außer das Leben zu genießen?«
Die Frage ärgerte ihn über die Maßen.
Edward betrachtete sich selbst im Spiegel über der Waschschüssel. Dasselbe Gesicht wie sonst starrte ihm entgegen. Das blonde Haar wurde am langen Backenbart dunkler und nahm einen Bronzeton an. Goldene Stoppeln glänzten im Kerzenlicht an seinen Wangen. Seine blonden Brauen waren eine Spur heller als sein Haar. Die blassblauen Augen waren in der Familie Bradley weit verbreitet. Er nahm an, dass es eine ironische Gabe des Schicksals war, dass er sie auch besaß. Die Nase war an der Spitze ein wenig gekrümmt – das verdankte er Felix aus ihren Kindertagen, als sein Cousin ihm einen Schlitten direkt ins Gesicht gerammt hatte. Der Schnee war daraufhin so rot geworden wie Kirscheis.
Edward hatte immer angenommen, er habe sein Aussehen von seinem Vater geerbt. Einige Leute hatten sich sogar darüber geäußert, wie stark Edward nach Lord Brightwell kam – zumindest äußerlich, wenn auch vielleicht nicht dem Charakter oder Temperament nach. Sein Vater war schon immer ein heiterer Mensch gewesen – ein unbeschwerter Mann, der von sich und anderen keinen Perfektionismus erwartete. In Gesellschaft war er ungezwungen, lächelte oft, und jeder mochte ihn.
Edward dagegen war nicht der lächelnde Typ. Sein üblicher Gesichtsausdruck war ernst, das wusste er, und schien immer leicht in Missvergnügen oder Missbilligung umzuschlagen. Woran das lag, konnte er nicht sagen. Wie Miss Keene so leichtfertig angemerkt hatte, hatte er nichts zu tun, außer das Leben zu genießen.
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