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Das Schweigen der Miss Keene (German Edition)

Das Schweigen der Miss Keene (German Edition)

Titel: Das Schweigen der Miss Keene (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Klassen
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Zumindest hatte er bis vor kurzem keinen Grund gehabt, sich nicht lächelnd durch seine Tage des Glücks und der Sorglosigkeit zu bewegen. Trotzdem hatte er nicht gelächelt. Es war, als hätte er jeden Moment darauf gewartet, dass das Märchen zu Ende ging, dass jemand ihn enttäuschte, ihm alles wegnahm und die grandiose Illusion zerstörte. Aber nein, er konnte die jüngsten Enthüllungen nicht für einen Charakter verantwortlich machen, der in vierundzwanzig Jahren geformt worden war, als er noch keine Ahnung davon gehabt hatte, dass er nicht der Spross seines Vaters und der Sohn seiner Mutter war.
    Seine Mutter hatte dies jedoch die ganze Zeit gewusst. Edward fragte sich, ob die Kenntnis seiner niedrigen Geburt ihre Wahrnehmung gefärbt und den Verdacht in ihr geweckt hatte, dass sein Verhalten und seine Fähigkeiten nicht das waren, was sie sein sollten. Sie war manchmal sehr kritisch gewesen – sicher könnte er in Latein schon viel weiter sein und wie kam er dazu zu sagen, er habe kein Ohr für Italienisch . Sein Lachen ging ihr auf die Nerven und seine Tischmanieren waren wirklich ordinär . Könnte nicht jede Mutter an diesen Punkten an ihrem Sohn etwas auszusetzen haben, zumal Jungen einfach so waren, vor allem in jungem Alter? Trotzdem wusste er, dass sie ihn auf ihre Weise geliebt hatte. Und er hatte sie geliebt. Bei diesem Gedanken brannten Tränen in seinen Augen. Er würde sie immer vermissen.
    Vielleicht ähnelte sein Temperament mehr dem seiner Mutter. Er war kritisch gegenüber anderen und mit der eigenen Leistung nie zufrieden. Schließlich hatte er mehr Zeit mit ihr zusammen verbracht als mit seinem Vater, der einen Großteil des Jahres im Parlament beschäftigt gewesen war.
    Das Parlament . Von seiner Kindheit an hatte Edward gewusst, dass er eines Tages den Sitz seines Vaters übernehmen würde. Er nahm an, dass es ihm liegen würde, Gesetze zu machen, da er die Tendenz hatte, die Dinge schwarz-weiß zu sehen. Richtig oder falsch. Gut oder schlecht. Ein Mensch aus der gehobenen Gesellschaft oder nicht. Gebildet oder ungebildet. Herr oder Diener. Aber jetzt …? Was für eine Art Mensch war er?
    Was wurde aus seiner Laufbahn im Parlament, seiner Heirat mit Miss Harrington, seiner Zukunft als Earl, wenn sein Geheimnis aufgedeckt wurde? All das stand jetzt auf dem Spiel. Und wenn all das morgen nicht mehr da sein würde … was war dann? Was würde er mit seinem Leben anfangen?

     
    Am Sonntagnachmittag saß Olivia am niedrigen Tisch in der Bibliothek und spielte Schach mit Lord Brightwell. Die Wintersonne strömte durchs Fenster herein – es war genau das Fenster, durch das sie den Earl und seine Frau das erste Mal gesehen hatte. Das schien so lange her zu sein.
    Winzige Staubkörnchen tanzten im Lichtstrahl, der die kunstvollen Spielfiguren und das Intarsien-Spielbrett auf dem Palisandertischchen beleuchtete. Der Earl schien in Gedanken zu sein. Sie wusste nicht, ob es sein nächster Zug war, der ihn beschäftigte, oder etwas Bedeutsameres.
    Lord Brightwell versetzte seine Königin und begann: »Olivia, ich muss Ihnen etwas über Ihre Mutter erzählen.«
    Olivia ließ ihre Schachfigur fallen. »Sie haben von meiner Mutter gehört?«
    Er nickte ernst. »Ich habe einen Mann losgeschickt, um nach ihr zu suchen, als Sie so krank waren. Ich dachte, das würde sie wissen wollen.«
    »Um nach ihr zu suchen?«
    »Sie hatten nur sehr ungenaue Angaben über Ihren Heimatort gemacht, wie Sie sich vielleicht erinnern. ›In der Nähe von Cheltenham‹ oder so etwas.«
    Olivia errötete.
    »Ich fürchte, er kehrte erfolglos zurück. Als Sie schließlich den Namen Ihres Dorfes nannten – für das Leumundszeugnis von der Schule – schickte ich Talbot noch einmal zu Pferd los. Auf den winterlichen Straßen wäre er mit einem Wagen nicht weit gekommen. Auch so gelang es ihm kaum, bis Withington durchzukommen. Im Ort suchte er den Wachtmeister auf, der ihm das Haus von Simon und Dorothea Keene beschreiben konnte.«
    Olivia nickte. »Das kleine Haus mit der grünen Tür, direkt nach dem Schuster und neben dem Friedhof.«
    »Doch das stimmt nicht mehr«, sagte er in ruhigem Ton.
    Olivia wollte erwidern, dass Talbot daran vorbei geritten sein musste. Es war schließlich nur ein kleines Haus, aber der Ausdruck auf dem Gesicht des Earls ließ sie verstummen.
    »Er hat das Haus gefunden, mein Kind, aber es war niemand da.«
    Olivia schluckte, während sie angestrengt überlegte. »Mein Vater … war vielleicht bei

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