Das Schweigen der Miss Keene (German Edition)
Schreiben beizubringen, wann immer es das umfangreiche Arbeitspensum des Dienstmädchens zuließ. Dies verschaffte ihr eine große Befriedigung. Miss Peale hielt sich manchmal in ihrer Nähe auf, wenn Becky sich über ihre Schiefertafel oder ein einfaches Buch beugte, und Olivia befürchtete, sie würde sich beschweren, doch das tat sie nicht.
An einem Tag Anfang März hörte Olivia Becky zu, wie sie aus einem Buch von Andrew laut vorlas, und half ihr, wenn sie über ein Wort stolperte. Die zwei Frauen erstarrten, als Lord Bradley ohne anzuklopfen ins Kinderzimmer trat. Er blieb abrupt stehen, als er die beiden in der Nähe des Kamins kauern sah, zwischen sich eine Kerze, denn es war ein dunkler, regnerischer Abend.
»Eine neue Schülerin, Miss Keene?«, erkundigte er sich, und sie konnte nicht ausmachen, ob er verärgert war oder nur neugierig.
Sie stand auf. »Ja, Mylord. Becky macht gute Fortschritte beim Lesen. Aber wir üben nur, wenn Beckys Pflichten erledigt und Andrew und Audrey bei Ihnen oder ihrer Stiefmutter sind.«
»Und wo sind sie jetzt? Ich komme gerade von Northleach zurück und kann niemanden im Haus finden.«
»Mrs Howe hat die Kinder zu einem Besuch bei ihrer Großmutter mitgenommen.«
»Bei Dominicks Mutter? Gut. Und wo ist mein Vater?«
»Ich fürchte, das weiß ich nicht.«
»Nun gut, die Straßen werden langsam wieder passierbar. Vielleicht hat er etwas lange Aufgeschobenes erledigt oder etwas in der Art.«
Olivia dachte an die versprochene Fahrt nach Withington, sobald die Straßen frei waren. Er war bestimmt nicht ohne sie dorthin gereist.
»Würden Sie bitte zu mir ins Studierzimmer kommen, Miss Keene? Natürlich erst, wenn Sie hier fertig sind.«
»Selbstverständlich, Mylord.«
Becky warf ihr einen bedauernden Blick zu, als wäre es ihr Fehler, dass Olivia einen Verweis erhalten würde. Olivia lächelte ihr beruhigend zu.
Als Olivia ein paar Minuten später durch die offen stehende Tür des Studierzimmers trat, erhob sich Lord Bradley von einem Sessel in der Nähe des Feuers.
»Bitte setzen Sie sich.«
Wenn er die Absicht hatte, sie zur Rechenschaft zu ziehen, würde sie lieber stehen bleiben. »Haben Sie etwas dagegen, dass ich Becky unterrichte? Wie gesagt, ich mache das nur, wenn wir beide –«
Er hob eine Hand, um sie zum Schweigen zu bringen. »Ich habe nichts dagegen, Miss Keene. Das wäre auch ziemlich heuchlerisch von mir, nicht wahr? Aber lassen Sie es sich gesagt sein, dass Mrs Howes Gesinnung möglicherweise nicht so vorurteilsfrei ist, wie meine es in jüngster Zeit geworden ist.«
»In Ordnung.«
»Bitte setzen Sie sich«, wiederholte er. »Ich würde nach Tee läuten, aber nun ja, ich denke …«
Sie setzte sich in den Sessel gegenüber. »Nein, danke, Mylord. Ich möchte nichts.« Sie verstand vollkommen, dass ein Diener, der dem jungen Herrn und der Gouvernante Tee brachte, sofort dafür sorgen würde, dass allerlei Gerüchte umgingen.
Er setzte sich ebenfalls wieder. »Ich bin neugierig, Miss Keene. Ich hätte gedacht, dass Sie kaum bereit wären, eine weitere Schülerin anzunehmen, nachdem Sie den ganzen Tag unterrichtet haben.«
Sie lachte leise. »Ich glaube, es ist andersherum. Becky ist am Ende eines Tages so erschöpft, dass sie kaum die Augen offenhalten kann, um zu lesen.«
Er lehnte sich zurück und legte die Fingerspitzen aneinander. »Macht Ihnen das wirklich so viel Freude?«
Olivia zuckte die Achseln. »Ich weiß, das hört sich vielleicht seltsam an. Aber ich glaube, dass Gott mich zum Lehren geschaffen hat, oder zumindest hat er mir Fähigkeiten gegeben, die sich für diese Aufgabe eignen. Ich wollte – wie meine Mutter – Lehrerin werden, seit ich ein kleines Mädchen war.«
Tränen brannten in ihren Augen und sie wechselte schnell das Thema. »Was wollten Sie als Junge werden?« Sie musterte sein Gesicht, als könne sie die Antwort dort lesen.
Er wandte unbehaglich den Blick ab. »Was ich werden wollte? Ich wollte der werden, der ich zu sein glaubte .«
»Gut, dann frage ich anders. Welcher Tätigkeit wollten Sie gern nachgehen?«
Nun war es an ihm, die Achseln zu zucken. »Von einem Gentleman wird nicht erwartet, dass er etwas arbeitet. Ich kam nicht mit einem brennenden Verlangen auf die Welt, etwas Großes zur Ehre Gottes zu vollbringen, wie Bach oder Beethoven, Rembrandt oder Kopernikus.« Er hielt inne und dachte nach. »Ich freute mich darauf, eines Tages der Earl von Brightwell zu sein – Angehöriger des
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