Das Schweigen der Miss Keene (German Edition)
noch meine Schwester, aber es wäre unbarmherzig, mehr zu erzählen.« Er zwinkerte ihr auf höchst ungeistliche Weise zu.
Olivia grinste. Sie machten eine weitere Runde durch den Garten, wobei sie Audrey und Andrew immer im Blick behielten, und Olivia stellte dem Pfarrer weitere Fragen. Als Charles Tugwell ihr von seiner Arbeit im Armenhaus berichtete, weckte das bei Olivia den Wunsch, dort zu helfen. Würde das nicht ein bisschen von dem wiedergutmachen, was sie falsch gemacht hatte, und aus all dem Schlechten, das sie an diesen Ort geführt hatte, etwas Gutes hervorbringen?
In seinem Studierzimmer starrte Edward Miss Keene ungläubig an. » Wo wollen Sie gern Ihren Halbtag verbringen?«
»Im Armenhaus. Mr Tugwell sagte, ich könnte dort von Nutzen sein.«
»Mr Tugwell hat Sie dazu eingeladen?«
»Ja. Es gibt doch sicher keine Einwände? Soweit ich weiß, sind Sie und er Freunde.«
Ein unfairer, aber kluger Schachzug , dachte er, als sie fortfuhr.
»Sie vertrauen Mr Tugwell doch, oder nicht?«
Tat er das wirklich? Würde er Tugwell sein Geheimnis anvertrauen? Vielleicht. Würde er ihm Miss Keene anvertrauen? Der Mann hatte innerhalb von sechs Jahren fünf Kinder in die Welt gesetzt. Nein, in Bezug auf Miss Keene vertraute er Tugwell nicht.
»Ich dachte, seine Schwester hilft ihm dort.«
»Sie tut, was sie kann, aber sie muss sich um die Jungen und das Haus kümmern und hat nicht viel Zeit. Miss Ludlow hilft ebenfalls, soweit es ihr Laden erlaubt. Aber es gibt immer mehr zu tun. Ich habe gehört, das Ihre Mutter das Armenhaus sehr gefördert hat.«
»Ja, das stimmt.« Edward spürte wieder den Grundton der Trauer über ihren Verlust. Er starrte in die Ferne und schwieg einige Augenblicke.
»Sie könnten … mitkommen, wenn Sie wollen«, schlug Miss Keene vor.
Er drehte ruckartig den Kopf und studierte ihr Gesicht. Ihre Wangen waren von einer leichten Röte überzogen.
»Um mein Verhalten zu überwachen«, fügte sie eilig hinzu. »Um sicherzugehen, dass ich nichts Unerwünschtes sage oder tue.«
Ging es um sein Geheimnis, fragte er sich, oder um Tugwell?
»Bewundern Sie den Mann?«
Ihre Augen wurden größer. Sie öffnete die Lippen, schloss sie wieder, öffnete sie erneut. »Ich … ich habe auf jeden Fall große Achtung vor so einem selbstlosen Pfarrer. Und er ist bisher immer sehr freundlich zu mir gewesen.«
Wesentlich freundlicher als ich , dachte Edward reumütig.
»Es ist nicht so, als würde ich Sie hier gefangen halten«, erklärte er. Jedenfalls nicht mehr. »Sie gehen jetzt in den Gottesdienst und sehen den Mann jeden Sonntag. Sind Sie sicher, dass Sie Ihren Halbtag nicht auf andere Weise verbringen wollen? Vielleicht eine Freundin besuchen oder in Cirencester auf den Markt gehen?«
»Würden Sie mir das denn erlauben?«
Er schluckte und holte tief Luft. »Ich glaube, das würde ich. Ich würde natürlich jemanden zur Begleitung mitschicken. Nur um sicherzugehen, dass Sie wohlbehalten zurückkehren. Sollte niemand anderes zur Verfügung stehen, könnte ich Sie sogar begleiten.«
Sie starrte mit ihren faszinierenden blauen Augen zu ihm hoch und er fühlte sich gefangen wie ein Iltis in einer von Croomes Fallen. Sein Blick wanderte zärtlich über die Rundungen ihres Gesichtes, die glatten ebenmäßigen Wangen und das spitze Kinn.
Ihre Stimme war gedämpft und warm. »Ich würde sehr gern auf den Markt in Cirencester gehen, wenn Sie oder jemand anderes mich begleiten würde.«
Er versuchte zu nicken, konnte jedoch seinen Blick nicht von ihr losreißen. »Ich werde Sie hinbringen.« Er stand kurz davor – die Versuchung war so groß –, ihr zu sagen, wie schön sie war. Ihr zu gestehen, wie sehr er es bereute, so hart zu ihr gewesen zu sein. Sie um Vergebung zu bitten. Sie zu bitten –
»Es gibt einiges, was ich gern für das Armenhaus kaufen möchte«, fuhr sie fröhlich fort. »Mr Tugwell sagte, ein Käselaib wäre willkommen und vielleicht auch neue Handschuhe für die Bewohner.«
Das Armenhaus und Tugwell können mir gestohlen bleiben , dachte Edward. Der Bann war gebrochen. Er nickte knapp und trat zurück. »Talbot kann Sie begleiten«, sagte er und stiefelte davon.
33
Das wirklich Beschwerliche an der Stellung einer Gouvernante ist der Tatsache zuzuschreiben, dass sie nicht definiert ist. Die Gouvernante ist keine Verwandte, kein Gast, keine Herrin, keine Dienerin – sondern etwas von allem. Niemand weiß genau, wie er sie behandeln soll.
M. Jeanne Peterson,
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