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Das Schweigen der Miss Keene (German Edition)

Das Schweigen der Miss Keene (German Edition)

Titel: Das Schweigen der Miss Keene (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Klassen
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obere Stockwerk. Er hatte das Bedürfnis, Miss Keene zu sehen und sich irgendwie von ihrer Unschuld zu überzeugen.
    Das Hauptbuch immer noch unter dem Arm, öffnete Edward leise die Tür und stellte sich im Schulzimmer hinten an die Wand. Da Audrey und Andrew die Augen nach vorn gerichtet hatten, bemerkten sie sein Eintreten nicht. Miss Keene sah ihn jedoch und geriet mit der Lektion, die sie gerade durchnahm, ins Stocken. Sie blickte ihn erwartungsvoll an, doch als er nichts sagte, setzte sie den Lateinunterricht fort. Seine Anwesenheit brachte sie jedoch offensichtlich aus dem Konzept.
    »Begriffe, die selten ins Englische übersetzt werden«, las sie aus dem Lehrbuch vor. » Viva voce , das heißt mündlich. Inter nos , unter uns.«
    Hat sie diese Begriffe mir zuliebe herausgesucht? , fragte sich Edward. Er dachte zurück an die Zeit, als nur er Miss Keenes Stimme gehört hatte.
    » Argumentum ad ignorantiam , ein Argument aus Unwissenheit.«
    Oh ja, davon hatten sie einige gehabt. Edward verschränkte die Arme, lehnte sich an die Wand und beobachtete sie genau.
    » Alias , anders.«
    Edward zog die Brauen in die Höhe. Hatte er sie nicht einmal beschuldigt, ihm einen falschen Namen anstatt ihren wahren zu nennen? Bildete er sich das ein oder stieg ihr die Röte am Hals hoch?
    » Alibi , anderswo.« Sie blickte zu ihm auf – schuldbewusst, so kam es ihm vor. In seiner gegenwärtigen Geistesverfassung hatte jedes Wort, das sie sagte, eine unterschwellige Bedeutung und schien sie zu belasten. Aber sie war unschuldig, oder etwa nicht?
    Sie räusperte sich und fuhr dann fort. » Bona fide , in gutem Glauben.«
    Konnte er davon ausgehen, dass Miss Keene seinen guten Glauben verdiente? Sein Vater war davon überzeugt. Und Edward hoffte sehr, dass er recht hatte. Aber sie verbarg etwas. Sie hatte nie wirklich erklärt, wie es dazu gekommen war, dass sie ohne Hab und Gut und, abgesehen vom Namen einer Schule, ohne Pläne in Brightwell Court aufgetaucht war, oder warum sie anfangs verschwiegen hatte, woher sie stammte. Zweifellos hatte es etwas mit ihrem unberechenbaren Vater zu tun. Aber selbst das hieß nicht zwangsläufig, dass sie nichts mit den Briefen zu tun hatte. Barmherziger Herr, bitte lass sie nichts mit den Briefen zu tun haben. …
    » Extortus , das bedeutet Nötigung.« Miss Keene warf ihm einen weiteren, unverkennbar befangenen Blick zu und schloss das Buch.
    Warum war sie so nervös?
    »Gut, ich glaube, das ist genug Latein für heute. Machen wir mit Mathematik weiter. Nehmt bitte eure Tafeln vor euch auf den Tisch.«
    Ihm wurde bewusst, dass sie Zuflucht zu dem Fach nahm, mit dem sie am vertrautesten war. Er erinnerte sich an die Geschichte vom Wettstreit im Wirtshaus. Plötzlich neugierig, hob er die Hand. »Darf ich eine Frage stellen?«
    Die Kinder drehten sich lächelnd zu ihm um, aber Miss Keene wirkte alles andere als erfreut. »In Ordnung.«
    Er öffnete das Hauptbuch und suchte eine der Rechnungen heraus, die in Walters ordentlicher Schrift notiert waren. »Was ist viertausendeinhundertneunzehn mal vier und dann dividiert durch zwölf?«
    Einen kurzen Moment lang starrte sie auf einen Punkt über seinem Kopf. »Eintausenddreihundertdreiundsiebzig. Warum?«
    Sprachlos starrte er sie an. »Ich frage mich … wie schlau sind Sie eigentlich?«

35
     
Ist es nicht das große Ziel der Religion … die bösartigen Leidenschaften auszulöschen, die Gewalt einzudämmen, die Lüste zu beherrschen und das raue Wesen des Menschen zu glätten?
William Wilberforce
     
    Olivia hatte fest geschlafen, als das Rufen ihres Vaters sie plötzlich weckte. Hatte sie es wirklich gehört oder war es nur ein Albtraum gewesen? Sie lauschte mit klopfendem Herz. Da war es wieder. Es klang nur zu echt.
    Wie hat er mich gefunden?, fragte sie sich entsetzt. Hat Miss Cresswell ihm gesagt, wo ich bin? Der Wachtmeister kann es nicht gewesen sein, nachdem nach meinem Vater gesucht wird!
    Am liebsten hätte sie sich die Decke über den Kopf gezogen und gehofft, dass er von allein wieder verschwand.
    Beim dritten Ruf stieg Olivia aus dem Bett, tapste zu ihrem Fenster und schaute nach unten. Von diesem Winkel konnte sie den Haupteingang jedoch nicht sehen. Sie entriegelte das Fenster und öffnete es. Nun konnte sie nicht nur seine Stimme deutlicher hören, sondern auch, wie er gegen die Tür schlug, als wolle er sie mit Gewalt aufbrechen.
    »Dorothea! Dorothea …« Es klang halb wütend, halb flehend, und Olivia zerriss es das

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