Das Schweigen der Miss Keene (German Edition)
Mein Zuhause. Meine gesamte Identität.«
Charles legte den Brief beiseite und stand auf. »Nein, Edward. Die werden Sie nicht verlieren.«
Er fasste Edward an der Schulter. »Lieber Freund, ganz gleich, was auch geschieht, Sie werden immer Gottes Kind sein. ›Sind wir aber Kinder, so sind wir auch Erben, nämlich Gottes Erben und Miterben Christi.‹«
Edward strich sich müde mit der Hand übers Gesicht. »Schwacher Trost, Charles, wenn ich mich für den Erben der Grafenwürde hielt.«
Nachdem Charles Tugwell sich verabschiedet hatte, suchte Edward seinen Vater in der Bibliothek auf. Lord Brightwell saß an seinem Schreibtisch. Edward schloss sorgfältig die Tür hinter sich und ließ sich dann in einen Sessel in der Nähe fallen. Sein Vater hob die Augen und bemerkte Edwards aufgelösten Zustand.
»Das war’s dann wohl mit dem Parlament«, begann Edward.
»Von was redest du? Natürlich wirst du berufen, meinen Platz einzunehmen, wenn ich nicht mehr da bin. So ist das üblich.«
»Nicht immer und ganz bestimmt nicht in diesem Fall.«
»Was bringt dich darauf? Du bist mein gesetzlicher Erbe – der nächste Earl von Brightwell. Niemand kann dir das nehmen.«
»Bist du dir dessen sicher, Vater?« Edward warf die Nachricht auf den Schreibtisch.
»Was ist das? Gib mir meine Brille.«
Edward stand auf, um die Brille zu holen, und beobachtete dann, wie sein Vater den kurzen Brief las. Lord Brightwell legte die Brille ab und rieb sich die Augen mit Daumen und Zeigefinger. Er seufzte tief auf. »Wann ist das gekommen?«
»Heute Morgen.« Statt seinen Platz wieder einzunehmen, begann Edward, in der Bibliothek auf und ab zu gehen.
»Hat es noch andere gegeben?«
»Dies ist die erste Nachricht, die an mich adressiert ist. Hast du noch andere bekommen?«
»Nicht seit diesem ersten Brief, bevor deine Mutter und ich nach Italien abreisten.«
»Wer könnte das geschrieben haben?«
»Ich weiß es nicht. Ich habe nie jemandem erzählt, was damals passiert ist. Für deine Mutter kann ich natürlich nicht sprechen. Es ist möglich, dass sie sich jemandem anvertraut hat – einer Freundin oder jemand aus ihrer Familie.« Der Blick des Earls ging in die Ferne, als könne er dort eine Antwort finden. »Wer würde so etwas tun?«
Er zog den ersten Brief aus der Schreibtischschublade und legte beide nebeneinander. Edward blickte über seine Schulter und studierte die Handschrift.
Sein Vater fragte: »Wurden beide von derselben Person geschrieben, was meinst du?«
»Ich nehme es an. Aber das ist schwer zu sagen. Die erste Nachricht war so kurz.«
Lord Brightwell hielt den jüngsten Brief auf Armlänge vor sich und betrachtete ihn. »Sieht für mich nach einer weiblichen Schrift aus.«
Edward richtete sich auf. »Aber Felix ist der naheliegende Verdächtige.«
»Felix? Felix schafft es kaum zu planen, was er anzieht, geschweige denn ein Unternehmen wie dieses.« Sein Vater gab Edward den Brief zurück.
»Er hat am meisten zu gewinnen.«
»Gegenwärtig nicht. Vergiss nicht, Edward, der Ehrentitel, den du gebrauchst, gehört mir. Selbst wenn du ihn aufgeben würdest, könnte ihn Felix nicht an deiner Stelle in Anspruch nehmen. Er wäre nur mein voraussichtlicher Erbe und hätte vor meinem Tod weder Titel noch Erbschaft.«
Edward nickte und fing wieder an, durch den Raum zu tigern. »Es mag an seinen gegenwärtigen Umständen vielleicht wenig ändern, aber auf jeden Fall an seinen Zukunftsaussichten.«
»Ich nehme an, du hast recht. Trotzdem kann ich es nicht glauben. Wo wurde der Brief abgeschickt?«
Edward drehte den Brief herum. »In Cirencester.« Der Name hallte in seinem Kopf wider und er erinnerte sich, dass Miss Keene vor kurzem dorthin gereist war, »um Käse für das Armenhaus zu kaufen«. Edward runzelte die Stirn. Das konnte nur ein Zufall sein.
»Von so nah!«, sagte Lord Brightwell.
Sollte er es seinem Vater sagen? Aber nein, es konnte nicht Miss Keene sein … oder doch? Er beschloss, fürs Erste die Tatsache nicht zu erwähnen, dass sie vor wenigen Tagen in Cirencester gewesen war.
»Ist Felix nicht wieder in Oxford?«, fragte sein Vater.
»Ja. Aber es ist keine allzu weite Reise, wenn er uns von seiner Fährte ablenken wollte.«
Unruhig und unfähig, sich auf die Abrechnungen zu konzentrieren, klemmte Edward sich das Hauptbuch für das Anwesen unter den Arm und zog los, um es Walters zurückzubringen. Als er den Sekretär nicht finden konnte, machte er sich stattdessen auf den Weg ins
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