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Das Schweigen der Miss Keene (German Edition)

Das Schweigen der Miss Keene (German Edition)

Titel: Das Schweigen der Miss Keene (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Klassen
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brauchte dringend einen Friseur. Die Stoppeln auf seinen Wangen machten sein Gesicht finster. Sein Anzug war von erstaunlich guter Qualität, wenn auch etwas zerknittert.
    Er stand auf und machte einen Schritt vorwärts, als wolle er … was? Ein Teil von ihr wollte fliehen, bevor sie es herausfand, aber sie fühlte sich wie angewurzelt, wie in einem Traum, in dem man vor der Gefahr nicht weglaufen kann. Simon Keene blieb stehen, wo er war, und starrte sie an. Einen langen Moment konnte sie ihre Stimme nicht finden. Als sie stumm blieb, erlosch das Licht in seinen braunen Augen und er sank in seinen Sessel zurück, die Mundwinkel nach unten gezogen.
    Tugwell fragte sie leise: »Soll ich Sie allein lassen?«
    »Bitte bleiben Sie.«
    »Kommst du, um mich zu beschimpfen?«, fragte ihr Vater. »Ich weiß, ich habe mich gestern wie ein Narr verhalten. Ich kann dir kaum einen Vorwurf machen, dass du nicht an die Tür gekommen bist.«
    Mr Tugwell sagte entschuldigend. »Ich fürchte, mir ist es herausgerutscht, dass Sie dort wohnen.«
    Olivia zuckte steif die Achseln, die Augen weiterhin auf ihren Vater gerichtet. »Du hast nicht nach mir gefragt.«
    »Ich hätte es getan, wenn ich gewusst hätte, dass du dort bist. Gott sei Dank geht es dir gut.«
    Anscheinend wusste er nicht, dass sie ihn niedergeschlagen hatte. Und die ganze Zeit hatte sie in Angst gelebt …
    Er knetete seine Hände, als schmerzten sie. »Deiner Mutter … geht es auch gut, hoffe ich?«
    Olivia runzelte die Stirn. Wie könnte er so etwas fragen, wenn er …?
    »Ich habe keine Ahnung«, erwiderte sie mit mehr Bitterkeit als beabsichtigt. »Aber wenn es ihr gut geht, dann hat sie das nicht dir zu verdanken.«
    Sie spürte Mr Tugwells überraschten Blick, achtete jedoch nicht darauf. Sie konnte jetzt keine Predigt über Vergebung gebrauchen.
    Ihr Vater senkte den Kopf. Als er wieder hochschaute, sah er ihr nicht in die Augen. »Der Pfarrer hier hat mir versichert, dass Dorothea nicht in Brightwell Court ist, aber ich muss gestehen, dass ich ihm nicht wirklich geglaubt habe.«
    »Sie ist nicht dort. Ich habe sie nicht mehr gesehen, seit ich weggegangen bin. In den letzten Monaten hatte ich Angst, sie könnte tot sein.«
    »Tot? Warum?«
    »Das fragst du mich?«
    Er verzog das Gesicht. »Hast du die Gerüchte über das Grab gehört?«
    Sie nickte.
    »Ich gebe zu, dass ich auch das Schlimmste fürchtete, als ich an jenem Morgen erwachte und zerbrochenes Glas entdeckte und sogar einen Blutfleck. Ich dachte, ich wäre betrunken nach Hause gekommen und hätte einen furchtbaren Krach mit Dorothea gehabt.« Er seufzte. »Bis zum nächsten Tag war mir nicht klar, dass ihr beide weggegangen wart. Ich ging zu Miss Atkins, aber sie ließ mich nicht einmal in ihr Haus. Sie sagte mir, du wärst aufgebrochen, um dir eine Stelle zu suchen, und Dorothea wäre weg und würde nie mehr zurückkommen. Sie weigerte sich, mir mehr zu sagen.«
    Hatte er wirklich keine Erinnerung daran, dass er versucht hatte, seine Frau zu erwürgen, oder dass er niedergeschlagen worden war? War er so betrunken gewesen? Wie erklärte er sich die klaffende Wunde oder die Beule, die am nächsten Tag an seinem Hinterkopf gewesen sein musste?
    Sie fragte: »Was war mit dem Blut, das du erwähnt hast?«
    »Ich weiß es nicht.« Er hielt die Hände in die Höhe und drehte sie. »Ich dachte, ich hätte vielleicht wieder gegen die Wand geschlagen oder mich an einer Glasscherbe geschnitten, aber an meinen Händen waren keine Verletzungen.«
    Es lag ihr auf der Zunge zu fragen, ob sein Kopf geblutet hatte. Aber dann müsste sie erklären, woher sie wusste, dass er verletzt worden war. Sie war noch nicht bereit, ihm das zu sagen, nicht jetzt, wenn er wusste, wo er sie finden konnte. Er wirkte momentan so friedfertig und reumütig – so nüchtern –, aber wie lange würde das anhalten?
    »Ich habe auch die Gerüchte über das neue Grab auf dem Friedhof gehört«, sagte er leise. »Aber ich wusste es besser. Ich wusste, dass ich sie schließlich vertrieben hatte. Zurück in die Arme ihres Oliver .«
    Oliver? Es wühlte sie auf, diesen Namen aus dem Mund ihres Vaters zu hören. Wie viel wusste er wohl von der früheren Beziehung seiner Frau mit dem Earl?
    »Ich habe versucht, sie loszulassen … Bin auf die Baustelle des Heilbads gezogen, um die Arbeiten besser überwachen zu können und um diesem leeren Haus und all den argwöhnischen Blicken im Dorf zu entgehen. Den ganzen Winter hat es mich fast verrückt

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