Das Schweigen der Miss Keene (German Edition)
angenommen, dass Sie hinter den anderen Briefen stecken. Aber Sie haben mir immer noch nicht gesagt, wo meine … wo Ihre Tochter ist.« Edward konnte das Wort nicht denken, geschweige denn aussprechen. Lady Brightwell war seine Mutter und würde es immer bleiben.
Croome starrte in die westliche Sonne, die zwischen den Bäumen hindurch schien wie ein goldenes, vom Wald eingefasstes Ziffernblatt. »Man sagt, sie ist mit ihrem jungen Mann weggelaufen.«
»Wer sagt das?«
»Die Leute, die nicht wollen, dass jemand Fragen stellt – über sie und was aus ihr geworden ist.«
»Und was sagen Sie ?«
Croome kniff die Augen zusammen, bis sie fast unter seinen buschigen Augenbrauen verschwanden. »Ich sage, der Herr weiß es, und der Earl weiß es, und einer von beiden wird es Ihnen sagen müssen.«
Olivia bat den Kutscher, zuerst am Bekleidungsgeschäft anzuhalten, wo sie sich herzlich von Eliza Ludlow verabschiedete. Von dort aus ging sie zum Pfarrhaus und traf Mr Tugwell in seinem Garten an.
»Ich bin gekommen, um auf Wiedersehen zu sagen.«
Er drückte ihre Hand. »Ich habe schon gehört, dass Sie uns verlassen. Und es tut mir sehr leid.«
»Danke.« Sie hoffte, man würde ihr nicht ansehen, dass sie geweint hatte, und versuchte, einen leichten Ton anzuschlagen. »Darf ich Sie um einen Gefallen bitten, Mr Tugwell?«
»Alles, was Sie wünschen, Miss Keene.«
»Ich habe an die Freundin Ihrer verstorbenen Frau geschrieben – die Leiterin der Schule in Kent.«
Er nickte.
»Sie hat mir geantwortet, sie würde mir eine Stelle anbieten, vorausgesetzt, Sie würden ein Leumundszeugnis zur Verfügung stellen. Würden Sie das tun?«
»Natürlich, meine Liebe. Obwohl es mir sehr missfallen würde, wenn Sie so weit weg ziehen.«
Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Ach, das macht doch nichts. Miss Ludlow wird immer noch hier sein. Und Sie beide verstehen sich doch so wunderbar.«
»Im Armenhaus, ja.« Er stockte. »Sind Sie von Brightwell Court … entlassen worden?«
»Eigentlich nicht, aber nach allem, was passiert ist, halte ich es für das Beste, wenn ich gehe. Um die Wahrheit zu sagen: Ich vermisse ein Klassenzimmer voller Schülerinnen, die Kameradschaft der Mädchen von nah und fern, die Gesellschaft Gleichgesinnter und die Freundschaft mit den anderen Lehrerinnen.«
»Das kann ich mir gut vorstellen. Ich habe das Leben einer Gouvernante nie beneidet. So viele einsame Stunden. Weder Familienangehörige noch Teil der Dienerschaft. In einer Schule werden Sie es viel angenehmer haben. Ich gestehe, ich kann es nicht aushalten, länger als ein paar Stunden allein zu sein. In meiner eigenen Gesellschaft wird mir viel zu schnell langweilig.«
Olivia schüttelte den Kopf, nachdenklich und leicht frustriert. »Ich denke, Sie müssen blind sein, Mr Tugwell. Oder Sie sehen nur, was Sie zu sehen wünschen.«
Er zog die Stirn kraus. »Wie meinen Sie das?«
Was konnte man einem Geistlichen sagen? Dem Pfarrer einer angesehenen Kirche? Machen Sie die Augen auf, Mann. Die Frau liebt Sie. Wenn Sie Eliza Ludlow nicht zur nächsten Mrs Tugwell machen, sind Sie ein Narr! Es würde nicht funktionieren. Männer mochten es nicht, wenn man sie zu etwas antrieb. Sie würde an sein gläubiges Herz appellieren müssen. »Ich glaube, Sie sollten für Miss Ludlow beten.«
»Oh?«
»Ja. Ich kann Ihnen keine Einzelheiten verraten, aber ich habe Anlass zu glauben, dass sie bald wieder heiratet, und sie wird Weisheit brauchen, um den richtigen Mann zu wählen.«
»Zu wählen? Wollen Sie mir sagen, dass Sie mehr als einen Bewunderer hat? Ich wusste nicht, dass es überhaupt einen gab.«
»Ich darf nicht weitergeben, was mir im Vertrauen gesagt wurde, Mr Tugwell. Ich kann Sie nur bitten, von ganzem Herzen für unsere liebe Eliza zu beten und dafür, dass Gottes Wille in ihrem Leben geschieht.«
»Das werde ich natürlich.« Er sah nachdenklich und verunsichert aus.
Olivia hielt es für ein gutes Zeichen.
Olivia wurde von einem Anfall des Bedauerns überwältigt, als sie ihre Runde auf dem Anwesen machte und sich von allen verabschiedete. Sie umarmte Doris und drückte sie fest.
»Es freut mich so, dass Sie Ihre Mama gefunden haben«, sagte Doris. »Was ist mit Ihrem garstigen alten Papa?«
Olivia atmete tief durch. »Ich habe festgestellt, dass ich ihn falsch eingeschätzt habe. Zumindest teilweise.«
»Ach wirklich? Ist er kein harter Brocken, kein hoffnungsloser Galgenvogel?«
Ihre Worte ließen Olivia verstummen.
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