Das Schweigen der Miss Keene (German Edition)
Würde Mr Tugwell nicht sagen, dass sie alle Galgenvögel seien? Dass sie durch Gottes Gnade alle der Strafe für ihre Taten entkamen? Sie schluckte. »Ich bin nicht sicher, was er ist. Aber ich habe die Absicht, es herauszufinden.«
Doris seufzte. »Ich habe wenig Hoffnung, dass Menschen sich ändern, aber es wäre schön, wenn ich mich in diesem Punkt irren würde. Und egal, was sonst noch ist, Sie haben eine Mama, die Sie liebt, und das ist mehr, als viele von uns haben, vergessen Sie das nicht.«
Olivia lächelte. »Ich werde Sie so sehr vermissen, Dory.«
In der Küche zerquetschte Mrs Moore Olivia beinahe mit ihrer herzlichen Umarmung. »Sie werden uns alle fehlen, Schätzchen. Sogar Mr Croome, obwohl er es nie zugeben würde. Waren Sie schon bei ihm?«
»Nein, aber ich werde ihn noch aufsuchen.«
Mrs Moore nickte und drückte ihr ein eingewickeltes Päckchen Kekse in die Hand. »Nehmen Sie das, meine Liebe«, sagte sie mit tränenglitzernden Augen. »Ein Stück von meinem Herzen begleitet Sie.«
Im Kinderzimmer schlang Andrew seine Arme um ihre Taille. Als er seinen Griff endlich lockerte, kniete Olivia sich hin, um auf Augenhöhe mit ihm zu sein.
»Warum gehen Sie weg, Miss Livie?«, fragte Andrew schmollend. »Sie waren schon viel zu lang weg.«
Audrey stand ein Stück entfernt und Olivia streckte ihr die Hand hin. Niedergeschlagen kam das Mädchen zu ihr.
»Ich werde euch beide sehr vermissen«, flüsterte Olivia. »Aber trotzdem muss ich gehen.«
»Wir brauchen aber einen Lehrer!«, beklagte sich Andrew.
Olivia überspielte ihren Klumpen im Hals mit einem bewusst fröhlichen Ton. »Du wirst den netten Mr Tugwell für dein Latein haben, habe ich gehört.«
»Bäh. Er ist gar nicht wie Sie, Miss Livie. Er redet eine Menge und bringt uns wenig bei.«
Olivia hatte keinen Zweifel, dass es genau so war, aber sie verkniff sich ein Lächeln. »Sei respektvoll und aufmerksam, Andrew. Vielleicht kommst du dann besser mit ihm zurecht.«
Sie drückte Audreys Hand. »Und die liebe Audrey wird eine neue Gouvernante bekommen oder vielleicht auf Miss Kirbys Schule gehen und dort die beste Lehrerin von allen haben – meine Mutter.«
»Ihre Mutter ist Lehrerin dort?«
»Ja, das ist sie. Es würde dir gefallen, Dorothea Keene als Lehrerin zu haben, das weiß ich.«
Andrew bohrte seine Schuhspitzen in den Teppich. »Audrey liest jeden Abend aus dem Rotkehlchenbuch . Aber es nicht dasselbe, wie wenn Sie es lesen.«
Mit brennenden Augen umarmte Olivia die beiden noch einmal, hielt sie ein letztes Mal umfangen.
Auf ihrem Weg die Treppe hinunter blieb Olivia vor Edwards Studierzimmer stehen. Sie fragte sich, ob sie ihm eine Nachricht hinterlassen sollte. Aber was konnte sie ihm mitteilen? Wie sollte sie überhaupt anfangen, zu Papier zu bringen, wie sie sich fühlte? Sie legte ihre Hand auf den Türknauf und strich mit den Fingern über die kühle, glatte Oberfläche. Dann drehte sie sich um und ging weg.
Auf ihrem Weg zur Hütte des Wildhüters hörte sie in ihrem Inneren das leise Flüstern einer Stimme. Spontan machte sie einen Abstecher in den Garten, wo ihr der freundliche Gärtner half, eine Handvoll Maiglöckchen abzuschneiden. Sie rochen süß und intensiv.
Olivia fand Mr Croome am Rand der Lichtung neben einem kleinen Grashügel. Er saß dort gegen einen Baum gelehnt. Als er sie sah, machte er einen Ruck, als wolle er aufstehen, aber dann sank er wieder zurück. Offenbar war es ihm gleichgültig, in so kläglicher Haltung entdeckt zu werden.
Als sie näher trat, bemerkte sie einige flache, von Flechten überzogene Steine auf dem Hügel, die in Form eines Kreuzes angeordnet waren. Sie sagte nichts und begegnete auch nicht seinem herausfordernden Blick. Sie hatte heute nicht die Kraft, sich mit ihm zu messen.
Sie bückte sich, legte die Maiglöckchen auf das Grab seiner Tochter und schritt davon.
45
Behalten Sie niemals einen Diener, so hervorragend er in seinem Stand auch sein mag, wenn Sie von ihm wissen, dass er sich der Unmoral schuldig gemacht hat.
Samuel & Sarah Adams, The Complete Servant
Edward traf Lord Brightwell im Garten an, wo er eine seiner Zigarren rauchte. Er ließ sich neben ihm auf die Bank fallen, blind für die Schönheit der Laube, der Bäume und Blumen.
»Ich hab gestern mit meinem Großvater gesprochen«, fing Edward an.
Der Earl hob ruckartig den Kopf. »Was? Er hat geschworen –«
Edward unterbrach ihn mit einer wegwerfenden Handbewegung. »Er hat nicht das
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