Das Schweigen der Miss Keene (German Edition)
Kutsche schicken, Olivia, damit sie Sie nach Faringdon zurückbringt. Oder falls Sie sich entschließen, länger hierzubleiben, könnten Sie Talbot mit einer Nachricht zu Ihrer Großmutter schicken, damit sie sich keine Sorgen macht.«
»Danke, Mylord.« Olivia und ihre Mutter erhoben sich ebenfalls. »Sie sind immer so aufmerksam.«
Dorothea knickste vor Lord Brightwell. »Ich bin wirklich dankbar, dass Sie über meiner Tochter gewacht haben.«
Der Earl verbeugte sich, doch sein Abschiedslächeln erreichte seine Augen nicht ganz.
Olivia begleitete den Earl bis ans Tor der Schule und entzog ihm dann sanft ihre Hand.
»Was werden Sie jetzt tun, meine Liebe?«, wollte er wissen.
Sie nagte an ihrer Lippe und antwortete dann: »Ich werde natürlich mit meiner Mutter zusammen sein und so viel wie möglich über die Situation meines Vaters in Erfahrung bringen. Meine Tante und meine Großmutter haben mich eingeladen, den Sommer über bei ihnen zu bleiben, und danach hoffe ich, in Kent eine Stelle als Lehrerin zu bekommen.«
»Aber Olivia, müssen Sie so weit weggehen? Ihre Mutter wird Sie vermissen und ich ebenfalls. Und auch Edward.«
»Na ja«, Olivia geriet ins Stocken und schob den Gedanken an Edward weit von sich. »Ich werde Sie auch vermissen. Aber ich sehne mich nach einem Neubeginn.«
Er schüttelte seinen Kopf. »Ich weiß, das war alles ein ziemlicher Schlag für Sie, Olivia. Aber es ändert nichts.«
»Mein lieber Lord Brightwell, da muss ich Ihnen widersprechen. Wir können nicht länger eine Beziehung vortäuschen, von der wir wissen, dass sie nicht existiert. Ihre Freundlichkeit war in den vergangenen Monaten mein größter Trost und ich werde Ihnen immer zutiefst dankbar sein. Aber ich darf Sie nicht länger in Anspruch nehmen.« Sie trat nahe an ihn heran und küsste seine Wange. »Danke für alles.« Schnell machte sie einen Schritt rückwärts, aus Angst, wieder in Tränen auszubrechen.
»Olivia …«
»Bitte erzählen Sie niemandem von meinen Plänen.«
Er zeigte ein fassungsloses Gesicht. »Aber warum nicht?«
»Mir bleiben nur noch ein paar Monate, bis ich nach Kent abreise, vorausgesetzt, sie bieten mir eine Stelle an. Ich möchte gern jede Minute mit meiner Familie verbringen.«
Er zuckte gekränkt zusammen. Olivia spürte den Schmerz in ihrem Inneren und bedauerte ihre Wortwahl auf der Stelle.
Er fragte: »Aber werden Sie nicht wenigstens nach Brightwell Court kommen und sich von allen verabschieden?«
»Nun ja … ich …« Olivia brachte es nicht über sich, die Wahrheit zuzugeben: dass sie Edward nicht sehen wollte. Der Earl musste ihre Verlegenheit gespürt und den Grund dafür erkannt haben.
»Edward wird morgen Vormittag weg sein«, sagte er in ruhigem Ton. »Sie könnten Ihren Besuch zu dieser Zeit machen, bevor Sie zu den Crenshaws zurückkehren.«
Olivia sah dem Earl in die Augen und entdeckte bedauerndes Verständnis darin. Ihr schnürte es die Kehle zu. Sie flüsterte heiser: »Ja. Morgen Vormittag wäre in Ordnung.«
Sie winkte, als er in die Kutsche stieg und das Gespann wegfuhr. Dann wandte sie sich zur Schule. Dabei drängte sich ein Gedanke in den Vordergrund, der die ganze Zeit über in ihrem Hinterkopf gelauert hatte. Sie erinnerte sich an ihre Hoffnung, die verschleierte Frau könnte ihre Mutter sein, die nach ihr suchte. Jetzt spürte Olivia, dass ihr ein Schauder über den Rücken kroch. Ihre Mutter war in der Schule gewesen, als sie angekommen waren. Wer war dann die verschleierte Frau gewesen, die Olivia gesehen hatte … und was hatte sie gewollt?
44
Galgenvogel: Jemand, der den Galgen verdient hat und ihm knapp entkommen ist, ein Strolch, nach dem der Galgen schreit, wie man so sagt.
Francis Grose, The 1811 Dictionary of the Vulgar Tongue
Edward traf den Wildhüter auf seiner Treppe, wo er in der Sonne saß, das zahme Rebhuhn dicht bei ihm, Schnitzmesser und Holz in der Hand.
»Ich habe etwas Erschütterndes erfahren, Mr Croome«, fing Edward ernst an.
Der alte Mann warf ihm einen scharfen Blick zu. »Ich glaube, ich weiß, wer Ihnen das verraten hat. Was immer sie gesagt hat, hoffe ich doch, dass Sie auch meine Seite der Geschichte anhören. Es ist nicht so schlimm, wie es scheint.«
»Sie? Sprechen Sie von Miss Keene?«
»Na ja, Sie nicht?«
»Nein. Warum sollte ich? Was hätte sie mir sagen können?«
Croome ließ das Messer zuschnappen. »Sie werden sie jetzt fragen, also erzählen ich es Ihnen selbst und Sie können mich entlassen,
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