Das Schweigen der Miss Keene (German Edition)
gewillt, mich unter ihrem Dach wohnen zu lassen und für die Kinder aufzukommen. Aber wenn Felix der Erbe würde, wäre er als mein Bruder immer verpflichtet, für mich zu sorgen, nicht wahr?«
»Ich bin dein Bruder. Im gleichen Grad, wie Felix es ist.«
Sie runzelte die Stirn. »Was meinst du damit?«
»Es gibt einen Grund, warum Alexander mir ähnelt. Du erinnerst dich doch an deine Bemerkung, dass du und ich einander ähnlicher sind als Felix und du? Dafür gibt es einen Grund.«
Sie starrte ihn an, fast ängstlich, fand er.
Er fuhr in ruhigem Ton fort. »Meine Mutter war niemand, den du kennen könntest. Aber du kanntest meinen Vater. Denn er war auch deiner.«
Sie stand vollkommen reglos da, als würde sie den Atem anhalten. Dann begannen ihre Augenlider zu flattern wie ein Fensterladen, auf und zu. Sie blinzelte, als wolle sie ihre Sicht ändern oder unzählige Bilder aus der Vergangenheit in Stücke schlagen. Aber sie machte nicht den Versuch, seine Aussage zurückzuweisen.
»Wusste er es?«, fragte sie.
»Dein Vater? Ich glaube nicht.«
»Ich denke, er könnte es geahnt haben … Vielleicht war das der wahre Grund, warum er die Sache auf sich beruhen ließ.«
Edward seufzte. Er hatte genug von der ganzen Geschichte. »Nun, das spielt letzten Endes keine Rolle und ändert auch nichts. Oder, liebe Schwester?«
Sie blinzelte wieder, dieses Mal, um die Tränen abzuwehren, die sein beißender Ton hervorgerufen hatte. »Verachtest du mich so sehr?«
Er betrachtete sie nüchtern. »Ich könnte dich niemals hassen, Judith. Aber ich bin enttäuscht. Ich hatte gedacht, wir wären zumindest Freunde. Du hättest mit dem, was du erfahren hast, einfach zu Vater und mir kommen können. Es gab keinen Grund für diese ganze Mantel-und-Degen-Geschichte.«
Edward trat an Judiths Kleiderschrank und öffnete seelenruhig die Tür, wie ein Jugendlicher, der die Küchenschränke für einen nächtlichen Imbiss durchsucht.
Sie reckte das Kinn. »Er hätte es nie zugegeben, es sei denn, man hätte ihn dazu gezwungen.«
»Da hast du vielleicht recht. Aber ich fürchte, du wirst die Folgen deiner kleinen Scharade noch bedauern.« Er zog den verschleierten Hut heraus und schleuderte ihn auf den Ankleidetisch. »Die verschleierte Frau, Judith? Was für eine Schauergeschichte!«
»Es war Mutters Idee. Sie dachte, Lord Brightwells Interesse an Miss Keene könne unsere Pläne durchkreuzen. Als ich ihr die Notiz aus der Mädchenschule zeigte, hoffte sie, wir würden etwas Belastendes über sie herausfinden, um ihre Zuneigung zu zerstören.«
»Warum? Selbst wenn sie seine Tochter gewesen wäre, was sie nicht ist, würde sie nichts erben, außer einer Mitgift oder einer kleinen Zuwendung.«
Sie verzog das Gesicht. »Seine Tochter? Daran dachten wir nicht. Wir fürchteten, er könnte … er hätte romantische Absichten ihr gegenüber.«
»Ach so.« Er nickte. »Ich gestehe, dasselbe dachte ich auch für kurze Zeit. Aber sein Interesse an Miss Keene war komplett väterlicher Natur, das kann ich dir versichern. Das heißt natürlich nicht, dass er nicht noch einmal heiraten könnte, sobald die Trauerzeit vorbei ist.«
Judith warf ihm einen besorgten Blick zu.
»Siehst du, was für ein Risiko du eingegangen bist, Judith? Statt zufrieden damit zu sein, dass du in Brightwell Court ein Zuhause hattest und alles, was du brauchtest, hast du alles auf die eine Karte gesetzt, dass mein Vater ohne rechtmäßigen Sohn stirbt. Außerdem verlässt du dich auf Felix' Bereitschaft, sich so großzügig zu verhalten wie Vater. Ich bezweifle das, aber das ist ein anderes Thema. Denn wenn Vater wieder heiratet und seine Frau ihm einen Sohn gebiert … dann verlierst du alles. Erkennst du das nicht, Judith? Es stellt sich heraus, dass du genauso eine Spielerin bist, wie dein Vater es war, obwohl du sagst, dass du ihn dafür verachtest.«
Ihre Lippen zitterten. Obwohl ihre Blicke wütend und widerspenstig waren, begann ihre Fassade doch zu bröckeln.
Edward drehte sich um und durchquerte langsam das Zimmer.
»Muss ich also gehen?«, rief sie ihm nach, die Stimme trügerisch ruhig.
An der Tür blieb er stehen und schaute noch einmal zurück. Sie stand von ihm abgewandt da und das durchs Fenster fallende Sonnenlicht hüllte sie in einen unverdienten goldenen Glanz. Vielleicht, dachte er, war das das Bild, wie Gott alle seine Kinder sah. Selbstsüchtig und gefallen, einerseits. Aber im vergebenden Licht seines Sohnes trugen sie alle einen
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