Das Schweigen der Miss Keene (German Edition)
brüllte.
Nachdem Doris gegangen war, zog Olivia einen Stuhl ans Feuer und kämmte dort Audreys feuchtes braunes Haar, bis es gerade und glatt herabhing. Andrew war zur Ruhe gekommen. Er saß jetzt in seinem Bett und blätterte in einem Bilderbuch, das Olivia im Kinderzimmer gefunden hatte. Sie wünschte, sie könnte ihnen vorlesen, wie ihre Mutter ihr immer vorgelesen hatte – einen Psalm, ein Gedicht, eine kurze Geschichte, aber nichts Furchterregendes vor dem Schlafengehen. Auf dem Nachttisch zwischen den beiden Betten gab es keine Bücher, was Olivia merkwürdig fand. Lasen Miss Peale oder Mrs Howe den Kindern denn nichts vor?
Olivia blickte Audrey und Andrew an, legte einen Finger an ihre Lippen und hob dann denselben Finger in der Geste: »Wartet!«
Sie nahm einen Leuchter mit, trat aus dem Schlafraum und suchte noch einmal das Kinderzimmer auf. Sie hielt das Licht hoch und ließ den Blick durchs Zimmer schweifen, doch es schien, als wäre Andrews Buch das einzige gewesen, das sich hier finden ließ. Sie sah den Kindertisch und die Stühle, ein Schaukelpferd in der Ecke, eine Truhe mit Spielzeug und eine Reihe hübscher Puppen auf dem Fenstersims, aber keine Bücher.
Sie schaute zur geschlossenen Tür auf der anderen Seite des Kinderzimmers. »Das Schulzimmer«, hatte Miss Peale mit einer wegwerfenden Handbewegung dazu gesagt.
Das Schulzimmer … Olivia hatte dessen Enge und die endlosen Horizonte, die sich darin verbargen, schon immer geliebt. Das melodische Schnurren der Lehrerstimme, die sich bei der Weitergabe wie ein musikalischer Lauf hob und senkte … Der Anblick der Buchrücken – schwarz, blau, grün –, nebeneinander aufgereiht wie die Londoner Stadthäuser … jedes lederne Rechteck ein Geschenk, das darauf wartete, geöffnet, erkundet und ausgekostet zu werden.
Vorsichtig drehte Olivia am Knauf und öffnete quietschend die Tür. Obwohl Miss Peale angedeutet hatte, dass die vorherige Gouvernante noch nicht lang weg war, besaß der Raum schon den widerlichen Muff der Vernachlässigung. Doch darüber legten sich die Düfte, die Olivia liebte: Kreidestaub, das Leder alter Bücher, verwelkte Wildblumen, Farbe und Kleister. Olivia schloss die Augen und atmete den Geruch tief ein. Sie fühlte sich zurückversetzt in ihre noch nicht lang zurückliegende idyllische Zeit als Assistentin von Miss Cresswell.
Olivia hob den Leuchter und ließ den Lichtschein durch den Raum schweifen. Da waren der Schreibtisch der Gouvernante, die Stühle um einen Tisch, auf dem Schiefertafeln lagen, der Globus in einer Ecke, das Bücherregal in der gegenüberliegenden. Sie hätte gern alles genau untersucht, die Bücher betrachtet und die Drucke an den Wänden, aber die Kinder warteten auf sie. Sie hockte sich vor das Regal und überflog die Buchrücken. Äsop, Mangnall, Hannah Moore, Fordyces Predigten für junge Frauenzimmer , Sarah Trimmers Fabulous Histories , bekannter unter dem Titel Die Rotkehlchen , und eine elegante Ausgabe des Neuen Testaments mit Psalmen.
Sie wählte die letzten beiden aus und nahm sie mit, wobei sie sorgfältig die Tür hinter sich schloss.
Zurück in der Schlafkammer ließ sie erst Audrey ihr Nachtgebet sprechen, dann Andrew. Sie wunderte sich, dass ihre Stiefmutter nicht nach oben kam, um diese Aufgabe zu übernehmen. Dann setzte sie sich neben Audrey auf ihr Bett und winkte Andrew, zu ihnen zu kommen. Die Kinder schien das zu überraschen, aber sie machten keine Einwände. Das junge Dienstmädchen, Becky, lag bereits auf ihrem Strohsack auf dem Boden. Sie sollte diejenige sein, die es als Erstes hörte, wenn eins der Kinder etwas brauchte. Doch allem Anschein nach würde das arme Ding im Tiefschlaf liegen, bevor ein einziger Satz gelesen worden war.
Olivia öffnete das Buch bei Psalm 46 und folgte der Schrift mit dem Finger, während Audrey laut las. Sie ermutigte Andrew, den Zeilen ebenfalls zu folgen, doch sie bezweifelte, dass der Junge viele der Wörter lesen konnte.
Dann schlug sie Die Rotkehlchen auf und ließ Audrey noch einmal laut vorlesen.
»… Da die meisten Vögel Junge hatten, aßen sie ihren Teil so gesch… ge-schwind als sie konnten; so ging es auch den Rotkehlchen, welche schnell ihre Mahlzeit hielten, weil die Mutter bald zu ihren Jungen zurückkehren und der Vater ihnen Frühstück holen wollte. Er hatte seinen jungen Freunden eine Nachtmusik gemacht, hielt es also nicht für nötig, sie jetzt länger mit Singen aufzuhalten …«
Als Olivia das Buch schloss,
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