Das Schweigen der Miss Keene (German Edition)
erschreckt hat. Ich bin selbst in Angst und Schrecken vor diesem Mann aufgewachsen.«
Sie starrte ihn an, verdutzt darüber, dass er das Ganze so unbekümmert sah.
Er beugte sich vor und stützte die Ellbogen auf den Schreibtisch. »Croome ist unser Wildhüter. Er ist schon seit Jahren bei uns.«
Der Wildhüter von Brightwell?
Offensichtlich missdeutete er ihren verständnislosen Blick, denn er erklärte: »Als Wildhüter ist er für das Land, das zum Anwesen gehört, verantwortlich. Er behält den Überblick über das Wild, bekämpft Schädlinge, Raubtiere und Wilderer … tatsächlich ist er der Mann, der Sie auf dem Grundstück erwischt und zum Wachtmeister geschleppt hat.«
Die Gedanken in ihrem Kopf waren in solchem Aufruhr, dass sie beinahe die Anspielung überhörte, sie sei mit Raubtieren und Wilderern gleichzusetzen. Ein Wildhüter, der mit Wilderern unter einer Decke steckte? Das ergab keinen Sinn. Hatte er sie erkannt, bevor er ihr den Sack über den Kopf gestülpt hatte? Sie hatte sich gewundert, warum der »Bedienstete von Brightwell« sie beim Wachtmeister deponiert und sich aus dem Staub gemacht hatte, bevor sie überhaupt einen Blick auf ihren Häscher werfen konnte. Hatte er befürchtet, sie könnte ihn erkennen? Und den Spieß umdrehen und ihn seinerseits beim Wachtmeister anzeigen?
Auf der anderen Seite hatte der Mann sie einmal gerettet und ihr nichts angetan, als er die Gelegenheit dazu gehabt hätte. Sie beschloss, erst einmal nichts weiter über ihn zu verraten. Lord Bradley hatte momentan genug andere Gründe zur Sorge.
Ein Gedanke begleitete sie auf dem Weg nach oben zum Kinderzimmer. Wenn sie ein Gespräch belauscht hatte, das ein Geheimnis hätte bleiben sollen – hatte Croome es dann vielleicht auch mit angehört?
9
Es gab immer Liebschaften unter den Dienern, aber wenn sie dem Herrn bekannt wurden, war die sofortige Entlassung die Regel.
Upstairs & Downstairs, Life in an English Country House
Mrs Hinkley wirkte leicht verärgert, als sie Olivia bat, in ihren Salon hinunterzukommen. Offensichtlich wünschte der Pfarrer, sie zu sehen. Doch die Haushälterin konnte einem Mitglied der Dienerschaft schlecht erlauben, Besucher im Empfangszimmer der Familie zu treffen. Genauso wenig konnte sie den Geistlichen auffordern, in die Küche hinabzugehen, wo die meisten Bediensteten ihre gelegentlichen Besucher empfingen. Mrs Hinkley seufzte und Olivia hatte den Eindruck, die Haushälterin halte das neue Kindermädchen irgendwie für eine Störung.
»Was will der Pfarrer von Ihnen?«, fragte sie flüsternd.
Olivia zuckte die Achseln.
»Er sagt, er sei Ihnen begegnet, als Sie das erste Mal ins Dorf kamen, und wolle sehen, wie es Ihnen geht.« Ihr Ton verriet, dass sie das alles für sehr fragwürdig hielt.
Olivia dagegen war erfreut, dass der Mann sich an sie erinnerte. Sie hatte jedenfalls nicht vergessen, wie freundlich es von ihm gewesen war, sie Miss Ludlow vorzustellen. Sie bereute es, dass sie damals nicht wie geplant zum Pfarrhaus gegangen war. Sie hoffte, dass er und seine Schwester keinen Platz am Tisch für sie gedeckt oder an jenem Abend lange auf sie gewartet hatten. Wie leid täte es ihr, wenn sie ihnen das Gefühl gegeben hätte, ihre Gastfreundschaft zu verschmähen.
Mr Tugwell erhob sich, als sie eintrat. »Miss Keene, Sie sehen gut aus! Deutlich besser als letztes Mal, als ich Sie gesehen habe! Geht es Ihnen gut?«
Sie nickte etwas überrascht. Hatte sie an jenem Tag am Fluss so furchtbar ausgesehen?
»Hervorragend. Sie erinnern sich hoffentlich an mich? Charles Tugwell, Pfarrer von St. Mary’s?«
Wieder nickte sie.
»Als Sie an jenem Abend nicht zu uns gekommen sind, habe ich –«
Mit großen Augen streckte sie bittend die Hand aus.
»Keine Sorge, meine Liebe. Ich verstehe es ganz und gar. Ich habe erfahren, was Ihnen zugestoßen ist und war sehr betroffen, es zu hören. Tatsächlich habe ich Sie an diesem Abend sogar gesehen, obwohl Sie sich meiner Anwesenheit nicht bewusst waren. Das Laudanum, wissen Sie. Ich habe viel für Sie gebetet.«
Jetzt wurde alles klar. Er hatte sie wirklich in ihrem schlimmsten Zustand gesehen. Sie spürte, wie seine Freundlichkeit ihr die Tränen in die Augen trieb, und zwang sich zu einem schwachen Lächeln.
»Aber, aber, meine Liebe, jetzt ist ja alles gut, nicht wahr? Ich hatte gehofft, Sie in der Kirche zu sehen, aber nachdem Sie nicht dort waren, bin ich hergekommen, um mich nach Ihnen zu erkundigen.«
Er legte den
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