Das Schweigen der Miss Keene (German Edition)
seinen Ball hin und her kickte. Nach vielem Bitten und Flehen ließen Olivia und Audrey sich von ihm zu einem halbherzigen Fußballspiel überreden.
Olivia hatte wenig Erfahrung mit diesem Sport und schon nach wenigen Augenblicken flog der Ball an ihr vorbei. Olivia drehte sich um und schaute, in welche Richtung er flog. Der Ball rollte an den Waldrand und blieb unter einer jungen Eberesche liegen, die immer noch einige Büschel hellroter Blätter trug. Olivia rannte dem Ball nach und bückte sich. Sie fasste mit der Hand unter den jungen Baum, wo der Ball in einer Anhäufung von rotem Laub lag. Sie griff nach dem Ball und richtete sich auf, hielt jedoch plötzlich inne und starrte entsetzt auf das Spielzeug in ihren Händen. Ein roter Schmierfleck zog sich darüber, als hätten die Blätter ihre Farbe abgegeben. Oder war es … Blut?
Sie schaute hoch, über den jungen Baum hinweg und verschluckte einen stummen Schrei. Ein großer alter Mann stand dort wie versteinert unter den wiegenden Ästen des Baums. Sein hageres Gesicht war zu einer Maske erstarrt – seine Hakennase wurde von zerfurchten Wangen umrandet, unter denen ein dünner Mund lag. Langes aschgraues Haar hing ihm bis auf die Schultern herab.
Es war der alte Mann aus dem Wald von Chedworth. War er ihr gefolgt? Hatte er sie vor Borcher gerettet, nur um sie jetzt selbst aufzuspüren und ihr etwas anzutun?
Sie blieb wie angewurzelt stehen und traute sich nicht, ihm den Rücken zuzuwenden. Unter wilden grauen Brauen starrten seine schmalen, silberglänzenden Augen auf ihr Gesicht, dann auf den Ball in ihrer Hand. Zur Erklärung hob er einige zusammengebundene tote Vögel hoch. Eine gewisse Erleichterung machte sich in ihr breit. Es war nur Vogelblut …
»Geben Sie her«, sagte er mit rauer Stimme und streckte die Hand nach dem Ball aus.
Olivia war verwirrt. War er hergekommen, um zu wildern, und wollte er jetzt auch noch das Spielzeug eines Kindes haben? Benommen hielt sie ihm den Ball hin. Er schnappte ihn sich mit seinen schmutzigen, knorrigen Fingern.
Sie schaute reglos zu, wie er den Ball an seinem Jackenärmel abwischte, ihn noch einmal begutachtete und ihr dann zurückgab.
Sie nahm das Spielzeug und blickte es an. Die Flecken waren weg. Andrew kam herbeigerannt, um herauszufinden, was los war, aber als sie den Blick wieder zu den Bäumen wandte, war der Mann verschwunden. Nur das leichte Wippen eines Astes verriet, dass er überhaupt da gewesen war.
Während die Kinder leise im Kinderzimmer spielten, ging Olivia auf und ab. Sollte sie Lord Bradley mitteilen, dass sie einen Wilderer gesehen hatte? Konnte sie das tun, ohne zuzugeben, dass sie ihm bereits vorher begegnet war? Sie hatte etwas davon mitbekommen, dass es in dieser Gegend Schwierigkeiten mit Wilderern gab. Als Friedensrichter würde er sicher Bescheid wissen wollen. War der alte Mann aufgetaucht, um Borcher aus der Arrestzelle zu befreien? Der bloße Gedanke, dass sich diese beiden Männer auf dem Grundstück herumtreiben könnten, brachte sie ins Schwitzen. Sie musste jemand davon in Kenntnis setzen.
Olivia verfasste eine kurze Notiz.
Als ich mit den Kindern draußen war, sah ich einen fremden alten Mann im Wald, der ein Bündel toter Vögel bei sich hatte.
Könnte das ein Wilderer gewesen sein?
Ich dachte, Sie würden das gern erfahren.
Sie überließ die Kinder der Obhut von Becky und Miss Peale und trug die Nachricht einen Stock tiefer zu Lord Bradleys Studierzimmer. Sie hatte ihn dort vom Treppenabsatz aus gesehen, als sie die Kinder nach oben gebracht hatte. Olivia klopfte an die offene Tür, betrat den Raum und reichte ihm die Nachricht, noch bevor er ein Wort sagte. Während er den Zettel las, sah sie sich im Zimmer um. Es ähnelte einer kleinen Bibliothek mit eingebauten Regalen und einem Schreibtisch voller Haushaltsbücher, Papiere und Schreibzubehör – Federkiele und eine Wachskerze in einem Ständer zum Erhitzen des Siegelwachses. Statuen mit aufbäumenden Pferden standen auf dem Kaminsims.
Lord Bradley runzelte die Stirn beim Lesen, doch dann erhellte sich seine Miene. »Ein Mann um die Sechzig, sehr dünn, langes graues Haar?«
Sie nickte.
»Ich vermute, das war Croome.«
Croome! Ja, das war sein Name, jetzt erinnerte sich Olivia. Aber woher wusste Lord Bradley das? Wurde nach diesem Croome gefahndet? War er ein bekannter Verbrecher?
Ihr verblüffter Gesichtsausdruck schien ihn zu amüsieren. »Ich kann es Ihnen nicht verdenken, dass der alte Croome Sie
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