Das Schweigen der Miss Keene (German Edition)
gebeugt an.
»Oh oh«, murmelte die Frau, ganz offensichtlich bekümmert. Sie starrte mit zusammengekniffenen Augen auf das Rezept in ihrer molligen Hand und Olivia fragte sich, ob sie wohl eine Brille brauchte.
Mrs Moore blickte auf und begegnete Olivias verwundertem Blick. »Hallo, meine Liebe. Kümmern Sie sich nicht um mich.« Sie nickte zur Keksdose hin. »Bedienen Sie sich.«
Olivia legte ihren Umhang ab, suchte sich einen Keks aus und nahm auf einem Hocker Platz.
Mrs Moore wedelte das Rezept durch die Luft. »Wissen Sie, Lady Brightwell hat manchmal für Gesellschaften und solche Dinge den französischen Koch von den Lintons ›ausgeliehen‹«, erklärte sie und es war nicht zu übersehen, dass dieses Vorgehen sie kränkte. »All die besten Häuser ziehen einen Koch vor – und meistens noch einen Franzosen«, schnaubte sie. »Jetzt will Miss Judith, dass ich sein coq au vin noch einmal zubereite, aber so sehr ich mich auch abmühe, ich kann sein französisches Geschreibsel nicht lesen.«
Olivia legte den Keks auf den Tisch und streckte ihre Hand aus.
Die ältere Frau zögerte, dann händigte sie ihr das fettverschmierte Blatt Papier aus. Olivia überflog die Zeilen, nickte und machte ein Zeichen, dass sie eine Feder brauchte. Schnell holte die Köchin Feder und Tinte aus ihrem kleinen Sekretär und übergab Olivia beides.
Olivia nahm sich einen Moment Zeit, um die Notizen genau anzuschauen, dann tauchte sie die Feder ein und fing an, die Zutaten und die Zubereitung ins Englische zu übersetzen.
»Sie haben eine wunderschöne Schrift, Livie«, sagte Mrs Moore über Olivias Schulter.
Olivia lächelte zu ihr auf und beugte sich wieder über das Papier. In wenigen Minuten hatte sie die Übersetzung vollendet und reichte sie Mrs Moore mit einer schelmischen kleinen Verbeugung.
Mrs Moore schüttelte den Kopf und schnalzte mit der Zunge. »Vielen Dank, meine Liebe. Diesen Keks haben Sie sich auf jeden Fall verdient!«
Nach ihrem Besuch in der Küche stieg Olivia die Treppen zum Schulzimmer hoch, das sie gern einmal bei Tageslicht sehen wollte.
Beim Eintreten atmete sie den Kreidestaub tief ein und schwelgte in Erinnerungen.
Ihre Mutter hatte ein eigenes Schulzimmer auf dem Dachboden ihres kleinen Hauses eingerichtet und war ihre einzige Lehrerin gewesen, bis Olivia begonnen hatte, Miss Cresswells Mädchenschule zu besuchen. Was für einen Streit ihre Eltern deshalb ausgefochten hatten! Am Ende hatte ihre Mutter an den Stolz des Vaters appelliert. Sollten seine Nachbarn glauben, er könne sich den Unterricht seines eigenen Kindes nicht leisten? Wollte er sich das Vergnügen rauben, dass seine Tochter als Klassenbeste gerühmt wurde? Sie hatte sogar versprochen, den Unterricht selbst zu bezahlen, von ihrem eigenen Lohn für die Näharbeiten, die sie jede Woche übernahm, und einem gelegentlichen Schüler.
Sie hatte gewonnen.
Wie sehr hatte Olivia diese Stunden bei Miss Cresswell geliebt, wo Erwachsene bestimmt, aber freundlich sprachen, auch bei Ermahnungen. Wo die Schülerinnen voll Erstaunen lächelten, wenn Miss Cresswell ihnen aus ihren liebsten Gedichten, Romanen oder Geschichtsbüchern vorlas und dabei mit ihrer vollen, musikalischen Stimme jede Figur zum Leben erweckte. Ja, es gab auch schwierige Stunden, wenn man darum kämpfte, französische oder italienische Texte zu übersetzen, oder lateinische Verben deklinieren musste. Die Mädchen führten Stücke zusammen auf, unternahmen Wanderungen in der Natur und fragten sich gegenseitig in Rechtschreibung und Vokabeln ab. Sie strahlten, wenn sie von Miss Cresswell gelobt wurden, und strengten sich noch mehr an, wenn sie sie ermahnte.
Olivia sehnte sich danach, eine solche Lehrerin zu sein. Sie wollte Kinder für das Lernen begeistern, sie in die Welt der Literatur einführen, die Schönheit der Musik und die Musik der Mathematik weitergeben, die Wunder der Schöpfung in Geografie und den Wissenschaften vermitteln und so vieles mehr.
Als Miss Cresswells Assistentin war sie auf dem Weg dorthin gewesen, aber jetzt schienen ihr solche Träume unerreichbarer denn je.
Seufzend schloss die die Tür und kehrte zu ihren Pflichten als neues zweites Kindermädchen in Brightwell Court zurück.
8
Ein Wilderer weist normalerweise Kennzeichen seines Berufs auf: den verdächtigen boshaften Seitenblick seiner dumpfen, tiefliegenden Augen, die fahle Wange, seine weite, ausgeleierte und mit zahlreichen Taschen ausgerüstete Jacke.
The Gamekeeper’s
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