Das Schweigen der Miss Keene (German Edition)
Kopf zur Seite.
»Ihr Hals ist verletzt, nicht wahr? Bedeutet Ihr Schweigen, dass Sie noch darauf warten, dass Ihre Stimme zurückkehrt? Oder habe ich Sie einfach nicht zu Wort kommen lassen?«
Sie schüttelte den Kopf und verkniff sich ein Grinsen.
»Ihre Fähigkeit zu gehen, scheint jedoch nicht eingeschränkt zu sein, und es ist ein schöner Tag. Darf ich Sie zu einem Spaziergang einladen?«
Sie starrte ihn mit offenem Mund an.
»Oh, ich bitte um Verzeihung. Sie haben hier jetzt eine Anstellung, nicht wahr? Ich muss gestehen, ich vergesse manchmal, wie gesegnet ich bin, dass ich jederzeit herumspazieren kann, wenn ich es möchte, es sei denn, es wäre eine Taufe oder Eheschließung durchzuführen. Ich verfasse sogar meine Predigten beim Gehen, wussten Sie das? Nein, natürlich nicht, wie könnten Sie auch? Ja, ich finde einen flotten Spaziergang genau das Richtige, um die Gedanken anzuregen und dem Geist Auftrieb zu geben.« Er hielt inne, um Luft zu holen, und verzog dann das Gesicht. »Entschuldigen Sie bitte, ich rede unaufhörlich, ich weiß. Ich muss Sie vorwarnen – wenn Sie doch einmal zum Gottesdienst kommen, werden Sie feststellen, dass meine Predigten ganz ähnlich sind. Es scheint mir nicht zu gelingen, etwas kurz und bündig zu sagen. Einige Gemeindeglieder sind freundlich genug gewesen, mich darauf aufmerksam zu machen. Das ist ganz bestimmt sehr hilfreich.«
Sie lächelte.
»Übrigens hat Miss Ludlow mir von Ihrer Absicht erzählt, sich um eine Anstellung in der Mädchenschule in St. Aldwyns zu bemühen. Ich dachte, ich könnte mich nächstes Mal, wenn ich in dieser Richtung unterwegs bin, für Sie erkundigen. Aber da Sie hier einen Platz gefunden haben, wird das vielleicht nicht mehr nötig sein?«
Eifrig gab Olivia ihm ein Zeichen zu warten und setzte sich dann an Mrs Hinkleys Schreibtisch. Sie gelobte sich, die Haushälterin von ihrem ersten Lohn zu entschädigen, nahm ein Blatt Papier und schrieb einen Brief, den sie so kurz wie möglich hielt.
Sehr geehrte Dame,
meine Mutter, Mrs Dorothea Keene, hat mir empfohlen, wegen einer möglichen Anstellung Kontakt zu Ihnen aufzunehmen.
Ich habe eine vorübergehende Anstellung in Brightwell Court angenommen, aber wenn Sie nach dem 4. Februar eine Stelle frei haben, möchte ich Sie um die Freundlichkeit bitten, mir hierher zu schreiben.
Darüber hinaus bitte ich darum, sollte meine Mutter Sie besuchen, sie freundlicherweise (und bitte nur sie allein) über meinen Aufenthaltsort zu informieren.
Mit bestem Dank,
Miss Olivia Keene
Sie faltete den Brief zusammen, erhob sich und war im Begriff, ihn Mr Tugwell zu geben, als sich die Tür öffnete und Lord Bradley mit eiligen Schritten und misstrauischer Miene den Raum betrat.
»Ach, Edward«, begrüßte ihn Mr Tugwell. »Ich bin gerade vorbeigekommen, um zu sehen, wie es Miss Keene geht.«
»Das hat man mir gesagt.« Aber Lord Bradleys Blick lag nicht auf dem Pfarrer, sondern auf dem gefalteten Papier in Olivias Hand.
Mr Tugwell folgte seinem Blick. »Oh, ich habe Miss Keene angeboten, eine Nachricht von ihr abzugeben, wenn ich das nächste Mal in St. Aldwyns bin. Sie war unterwegs zur Mädchenschule dort, als ihr, äh, Missgeschick passierte. Wie freundlich von Ihnen, Ihr hier eine Anstellung anzubieten.«
Lord Bradley gab keine Antwort darauf, sondern fixierte stattdessen Olivia mit einem herausfordernden, wütenden Blick.
Der Pfarrer streckte die Hand aus, aber die Nachricht fühlte sich in Olivias Hand plötzlich wie ein 40 Kilogramm schwerer Sack an. Sie erinnerte sich an Lord Bradleys Verbot, ohne seine Zustimmung Briefe zu verschicken, und wusste, dass sie dagegen verstieß, wenn sie den Pfarrer bat, eine Nachricht für sie zu überbringen. Aber glaubte er wirklich, sie würde sein Geheimnis in einem Brief an eine Schulleiterin offenbaren … und dazu noch die Vermittlung eines Gottesmannes benutzen?
Bei seinem warnenden eiskalten Blick musste sie schlucken. Offenbar glaubte er das tatsächlich.
Sie trat vor und händigte den Brief stattdessen Lord Bradley aus. Er entfaltete ihn und begann zu lesen.
Der Pfarrer runzelte die Stirn. »Also wirklich, Edward, halten Sie das für nötig?«
Auch darauf gab Lord Bradley keine Antwort.
Nachdem er die hastig verfassten Zeilen überflogen hatte, warf er ihr über den Rand des Briefes einen Blick zu. »Erwarten Sie wirklich, mit einem so ungenauen Schreiben eine Anstellung zu bekommen? Ohne das Angebot eines Leumundszeugnisses und ohne jede
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