Das Schweigen der Miss Keene (German Edition)
wir dem Kohlenhändler zahlen.«
Sie blieb hinter dem Stuhl stehen, bis Olivia sie sanft wegschickte.
»Ach, nun gut. Aber wenn Sie meinen Fehler nicht bis in einer halben Stunde gefunden haben, werde ich mich noch einmal daran setzen müssen.«
Zehn Minuten später klopfte Olivia mit den Fingerknöcheln an den Schreibtisch. Mrs Hinkley sprang eifrig vom Sofa auf und eilte zu ihr herüber. »Haben Sie etwas gefunden?«
Olivia nickte und deutete auf eine fehlerhafte Zwischensumme. Sie hob einen Zettel mit der korrigierten Summe hoch.
»Na so etwas, Sie haben recht. Wie konnte mir das entgehen?«
Olivia lächelte und stand vom Stuhl auf.
Den Blick immer noch kopfschüttelnd auf die Zahlen gerichtet, sagte Mrs Hinkley: »Manchmal braucht man einfach ein Paar zusätzliche Augen, glaube ich.« Sie schaute noch einmal zu Olivia. »Wenn es Ihnen nichts ausmacht, das für sich zu behalten …?«
Olivia nickte. Sie hatte nicht das Verlangen, irgendjemand davon zu erzählen. Sie wollte nicht, dass man sie fragte, wie es kam, dass sie so viel von Rechnungsbüchern verstand.
Verspätet gab sie die Nachricht von Miss Peale weiter. Mrs Hinkley überflog den Zettel, schickte Olivia in die Küche, damit sie dort ein Stück Brot holte, und versprach, den Ring so bald wie möglich zu kaufen. Einige Minuten später kehrte Olivia mit dem Brotkanten ins Kinderzimmer zurück, doch Miss Peale schaute nur begriffsstutzig darauf und sagte, sie habe keinen Hunger.
An diesem Nachmittag hatte Edward in seinem Studierzimmer ein Treffen mit dem Sekretär seines Vaters, als seine Aufmerksamkeit von einer Bewegung auf der Wiese abgelenkt wurde. Er hielt in seinem Diktat an Walters inne, um aus dem Fenster zu sehen. Miss Keene war dort draußen, einen roten Schal um Augen und Hut gebunden, die Arme vor sich ausgestreckt – offenbar wurde Blindekuh gespielt. Sein junger Cousin, dick eingepackt von Kopf bis Fuß, rannte um sie herum und wich ihren Händen aus. Die Kinder lachten und forderten Miss Keene laut heraus. Sie drehte sich, ihre Röcke und ihr Umhang wirbelten um sie her, ein breites Lächeln erhellte ihr Gesicht. Er spürte, wie sich bei diesem Anblick seine eigenen Mundwinkel unwillkürlich nach oben bewegten. Er wusste, dass er sie nicht attraktiv finden sollte, aber es war so. Er wünschte, er wüsste, ob er ihr vertrauen konnte. Er dachte an Sybil Harrington mit ihren klassischen Zügen und ihrer reichen Mitgift. Sein Vater hoffte, dass er sie heiraten würde. Sie war viel schöner als jedes zweite Kindermädchen; anders konnte es nicht sein.
Andrew rannte zu dicht an Miss Keene heran, und sie packte ihn um den Bauch, hob ihn hoch und drehte sich mit ihm im Kreis, bis er seinen Hut verlor. Andrew lachte vor Vergnügen, das Geräusch drang durch die Fensterscheibe. Miss Keene setzte ihn ab und zog sich die Binde von den Augen. Sie verstrubbelte ihm liebevoll die Haare, bevor sie seinen Hut aufhob und ihm wieder auf den Kopf drückte. Audrey kam ebenfalls zu ihnen und schob ihre behandschuhte Hand in die von Miss Keene.
»Soll ich den letzten Satz wiederholen, Mylord?«, fragte der Sekretär.
»Hmm?«, murmelte Edward und versuchte sich wieder auf das zu konzentrieren, was gerade anlag. »Oh ja, bitte, Walters, wenn Sie so nett wären.«
Olivia stopfte sich den roten Schal in die Umhangtasche. Sie bedeckte ihre Augen mit den Händen und zeigte anschließend auf die Nebengebäude.
»Sie will Verstecken spielen!«, rief Andrew.
Olivia nickte mit einem bitteren Lächeln. Sie entwickelte langsam echte pantomimische Fähigkeiten.
»Ich habe keine Lust mehr auf alberne Spiele«, beschwerte sich Audrey.
»Komm schon, Audrey«, drängte ihr Bruder. »Ich suche auch als Erstes. Auf die Plätze, fertig, los!«
Audrey gab nach und rannte Richtung Garten davon. Olivia folgte etwas langsamer, zu befangen, um ohne die Kinder an ihrer Seite zu rennen.
Während Andrew zählte, schaute sich Olivia hier und da nach einem neuen Versteck um.
Johnny Ross trat aus dem Stall, Politur und Bürste in der Hand. »Hier!«, rief er und winkte sie zu sich herüber. »Ich weiß einen Platz, an dem die Knöchelbeißer Sie niemals finden werden.«
Sie eilte auf den Stallknecht zu und als sie ihn anlächelte, errötete sein helles Gesicht. Er grinste. »Hier entlang, Miss.«
Olivia folgte ihm in den Stall. Dort stieß er gegen eine Stelle der hölzernen Wand, die offenbar eine gut verborgene Tür zu einer kleinen Kammer war.
»Die
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