Das Schweigen der Miss Keene (German Edition)
Dr. Sutton eine Stunde später eintraf, verabreichte er ihr Kamille und Baldrian, um sie zu beruhigen. Er gab die Anweisung, dass ihr mehr Flüssigkeit eingeflößt werden solle. »Es ist vielleicht nur ein leichtes Fieber und nicht die Tollwut, aber das kann man jetzt noch nicht mit Sicherheit sagen«, erklärte er. »Es bleibt uns nichts anderes übrig, als zu warten.«
Edward nickte. Er würde warten. Aber er würde auch beten. Er schickte Osborn mit einer Nachricht zu Charles Tugwell und bat den Gottesmann, ihn mit seinen Gebeten zu unterstützen.
21
Vergesst nicht, wenn ihr irgendein lebendiges Wesen in den Fall setzt, dass es euch zu seinem Unterhalte nötig hat, auch dafür zu sorgen, dass er ihm nicht fehle.
Sarah Timms, Die Rotkehlchen. Eine Geschichte für Kinder. Zur Beförderung der Menschlichkeit gegen Tiere, 1786
Als seine Cousine das Krankenzimmer betrat, saß Edward im Lehnstuhl am Fenster und las in einer alten Chaucer-Ausgabe. Die Pflegerin war zum Abendessen nach unten gegangen und Olivia schlief ruhig in ihrem Bett.
»Wie geht es ihr?«, erkundigte sich Judith flüsternd.
»Vor ein paar Stunden war sie sehr unruhig, aber das hat wieder nachgelassen.«
Judith kam ein paar Schritte weiter ins Zimmer hinein, trat jedoch nicht ans Bett, als fürchte sie sich, sie könne der Kranken zu nahe kommen. Mit einem schwer zu deutenden Ausdruck auf ihrem hübschen Gesicht blickte sie auf Miss Keene herunter. »Ich habe gerade mit deinem Vater gesprochen. Er scheint sehr besorgt um sie zu sein.«
Edward zuckte unbehaglich die Achseln. »Er ist ziemlich … angetan von ihr.«
»Was ich merkwürdig finde.« Sie neigte den Kopf zur Seite und schaute ihn an. »Findest du das nicht?«
Das Thema war ihm unangenehm, und wieder zuckte er nur die Achseln.
Judith betrachtete ihn nachdenklich. »Und du sitzt hier wie ein treuer Hund neben ihr. Hast du keine Angst, dich mit der Tollwut anzustecken?«
Er schüttelte den Kopf. »Der Arzt meint, es ist nur ein Fieber.«
»Beunruhigt dich das nicht?«
»Natürlich, aber Sutton –«
»Ich meine nicht das Fieber«, unterbrach sie ihn. »Ich meine, beunruhigt dich das nicht, dass dein Vater eine Schwäche für unser zweites Kindermädchen hat?«
Als Edward keine Antwort gab, fragte Judith: »Und was meinte Mrs Hinkley, als sie von einem Wunder sprach?«
»Wie bitte?«
»Als ich gerade an ihr vorbei ging, sagte sie: ›Ist das mit Olivia nicht ein Wunder?‹«
Edward nickte. »Ich vermute, sie bezieht sich darauf, dass Miss Keene im Schlaf gesprochen hat.«
Judiths volle Lippen öffneten sich. »Tatsächlich?« Ihre Augen blitzten triumphierend auf. »Hab ich dir nicht gesagt, dass sie vielleicht nur vortäuscht, stumm zu sein?«
Edward spürte Ärger in sich aufsteigen. Hatte er anfangs nicht die gleiche Vermutung gehabt?
»Und was sagt sie?«, fragte Judith eifrig.
Edward war plötzlich verlegen. »Hmm…?«, murmelte er absichtlich begriffsstutzig.
»Was sagt Miss Keene, wenn sie im Schlaf spricht?«, bohrte Judith weiter.
Er zögerte. Er wollte die Wahrheit nicht ausplaudern, doch seine Augen mussten etwas davon verraten haben.
Judiths helle Brauen hoben sich und ihre Mundwinkel zuckten amüsiert. »Erzähl mir nicht, dass sie nach dir ruft.«
Edward spürte die Hitze an seinem Hals. »Sie … murmelt eine Menge Unsinn – das ist alles.«
Der vielsagende Blick seiner Cousine brachte ihn aus der Fassung und er wandte das Gesicht von ihr ab.
Olivia öffnete die Augen und sah sich um, völlig verwirrt darüber, sich in einem fremden Zimmer zu befinden. Eine brennende Kerze stand auf dem Nachttisch und im Kamin brannte ein Feuer. Eine Frau, die sie nicht kannte, döste in einem Lehnstuhl in der Nähe des Feuers, einige Näharbeiten auf dem Schoß.
Langsam setzte sich Olivia auf und machte sich Sorgen, warum sie diese kleine Handlung so anstrengend fand. Warum war sie so schwach? Bei ihrer Bewegung quietschte das Bett. Die fremde Frau wachte auf und starrte Olivia mit weit aufgerissenen Augen an.
»Miss Keene? Geht es Ihnen … gut?«
Olivia nickte, während die Erinnerung an den Angriff im Wald langsam zurückkehrte.
Die Frau watschelte zum Bett. »Ich bin Mrs Jones, die Heimpflegerin. Brauchen Sie etwas? Möchten Sie einen Schluck Wasser?« Mrs Jones hielt ihr das Glas an den Mund, aber Olivia nahm es ihr vorsichtig aus der Hand und nippte selbst daran. Die Krankenschwester strahlte sie an, als hätte sie gerade ein
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