Das Schweigen der Miss Keene (German Edition)
außergewöhnliches Kunststück vollbracht.
»Warten Sie hier«, sagte sie. »Die anderen wollen bestimmt wissen, dass Sie zu uns zurückgekehrt sind.«
Olivia fragte sich, wie lange sie schon im Bett lag und ob sie in einem annehmbaren Zustand für Besucher war. Sie schaute an sich herunter und fand es auf seltsame Weise rührend, dass sie in einem eleganten, schlichten Nachthemd steckte. Wem gehört es? , fragte sie sich. Kurz darauf ertönte irgendwo im Herrenhaus eine laute Stimme, die durch die Flure und die Treppe hinauf und hinunter klang.
»Sie ist aufgewacht! Sie ist aufgewacht!«
Doris , erkannte Olivia und blieb wartend sitzen. Wenige Minuten später öffnete sich die Tür und Doris streckte den Kopf herein. »Hallo, Schätzchen. Fühlen Sie sich wohl genug für Besucher?«
Olivia nickte. Sie fühlte sich geschwächt und etwas benommen, aber ansonsten wohl. Doris trat ein, gefolgt von Mrs Hinkley. Auf ihren Gesichtern lag eine eifrige Erwartung, die Olivia nicht recht einordnen konnte.
Doris schüttelte zwei Kissen in ihrem Rücken auf und glättete die Bettdecke. »Sie haben zwei Tage lang geschlafen, Livie. Wussten Sie das?«
Olivia schüttelte den Kopf.
Mrs Hinkley lächelte auf sie herab. »Sie haben im Schlaf gesprochen, meine Liebe. Ich habe es selbst gehört.«
Schockiert zwang sich Olivia zu einem zaghaften Lächeln, während ihre Gedanken wild durcheinander gingen. Was würde Lord Bradley sagen? Was hatte sie geredet?
»Sie haben eine Menge Unsinn geredet, habe ich gehört«, warf Doris ein. »Ich wäre bereit gewesen, zehn Pence zu zahlen, um das mitzuerleben.«
»Können Sie jetzt sprechen?« Mrs Hinkleys Ton war sanft.
Olivia zögerte. Sie schauten sie beide so erwartungsvoll an. Lord Bradley schlüpfte hinter ihnen ins Zimmer und erwiderte ihren Blick. Er nickte ihr leicht zu.
»Ich … j-ja«, stammelte Olivia. »Ich glaube, ich kann sprechen.«
»Oh!«, rief Doris aus. »Und spricht sie nicht vornehm – ganz wie eine Dame! Sagen Sie meinen Namen, bitte, Schätzchen?«
»Und meinen?«, fügte Mrs Hinkley schüchtern hinzu.
Olivia lachte leise. »Meine Freundin Doris McGovern … und die liebe Mrs Hinkley.« Ihre Augen begegneten der dritten Person im Raum. Sein Ausdruck war undurchdringlich. »Und … Mylord, Lord Bradley.«
Ein kleines Lächeln umspielte seine Lippen.
Doris und Mrs Hinkley, plötzlich verlegen, murmelten »Entschuldigen Sie uns« und »Gott segne Sie« und verließen eilig den Raum.
»Vielleicht konnte sie die ganze Zeit sprechen und wusste es nicht«, hörte Olivia Doris sagen, als die zwei Frauen zusammen den Gang hinuntergingen.
»Das ist möglich«, stimmte Mrs Hinkley zu. »Oder vielleicht hat die Krankheit sie geheilt.«
Als Olivia nach ihrer mehrtägigen Abwesenheit das Kinderzimmer betrat, stürmte Andrew durch den Raum und schlang seine Arme um sie. Noch immer schwach und wackelig auf den Beinen nach ihrer Krankheit, musste Olivia sich am Türrahmen festhalten, um nicht nach hinten umzukippen.
»Hallo, Miss Livie. Sind Sie jetzt wieder gesund?«
»Ja, das bin ich.«
Sein kleines Kinn fiel nach unten. »Sagen Sie das noch einmal.«
Olivia lächelte. »Ja, das bin ich. Ich bin wieder gesund.«
Audrey näherte sich zurückhaltend und Olivia streckte ihr eine Hand entgegen. Da eilte das Mädchen zu ihr hin und unterdrückte ihr scheues Lächeln. »Hallo, Miss Keene«, sagte sie. »Wir haben Sie vermisst.«
»Und ich euch auch.«
»Ich habe dir gesagt, dass sie reden kann!«, verkündete Andrew. »Ich habe gehört, wie sie im Schlaf gesprochen hat, aber niemand hat mir geglaubt.«
»Vielleicht habe ich wirklich im Schlaf gesprochen«, versuchte ihn Olivia zu beruhigen, »und habe nicht gemerkt, dass ich auch reden konnte, wenn ich wach war.«
»Ich muss sagen, ich bin enttäuscht von Ihnen, Miss Keene.«
Olivia hob den Kopf und war verwirrt, Judith Howe an der Tür zum Schlafzimmer stehen zu sehen, den kleinen Alexander auf der Hüfte. »Es tut mir leid, Madam. Ich –«
Judith senkte den Blick und hob ihn dann wieder. »Sie müssen wissen, dass ich mir vorgestellt habe, Sie würden mit einem preußischen Akzent sprechen oder vielleicht einem französischen. Wie es sich für eine ausländische Prinzessin gehört, die von zu Hause geflohen ist.«
Olivia zwang sich zu einem Lachen. »Es tut mir leid, Sie so zu enttäuschen.«
Judith richtete sich auf. »Sie sind nicht vor einem tyrannischen Vater davongelaufen, der Sie zu einer
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