Das Schweigen der Miss Keene (German Edition)
zu verlieren, wohin sie wollte. Ich hatte keine Ahnung, dass sie schwanger war, obwohl es mir vielleicht in den Sinn hätte kommen sollen. Wie unverantwortlich und selbstsüchtig ich war … wie schwach. Ich nehme aber an, dass ich anders gehandelt hätte, wenn ich es gewusst hätte. Ich versuchte, sie zu finden, doch ich muss gestehen, dass es ein höchstens halbherziger Versuch war. Nicht einmal ihre Familie wusste, wo sie war.«
»Olivia«, flüsterte Edward vor sich hin und erkannte plötzlich die Bedeutung dieses Namens.
»Ja«, antwortete der Earl leise.
Edward machte ein finsteres Gesicht. »Geht die ganze Sache von ihr aus oder von dir?«
»Von mir. Sie will keinen Schilling von mir, falls du das denkst.«
»Nein, das dachte ich nicht«, brummte Edward, obwohl ihm der Verdacht durch den Kopf geschossen war.
»Ich habe Olivia gegenüber meine Vermutung nicht deutlich ausgesprochen, doch dank ihrer Intelligenz – und meiner unauffälligen Art, das Thema anzusprechen – denke ich, dass sie es erraten hat. So vornehm, wie sie ist, findet sie den Gedanken, ein uneheliches Kind zu sein, sicher abschreckend, das kannst du dir vorstellen.«
»Oh ja, das kann ich mir vorstellen«, bestätigte Edward in ironischem Ton.
Der Earl warf ihm einen kurzen Blick zu. »Du musst wissen, Edward, dass Olivia nicht davon überzeugt ist. Meine Erinnerung, wie lang das her sein muss, und ihr Alter stimmen nicht überein.«
Edward zuckte die Achseln. »So etwas lässt sich leicht ändern. Zweifellos feiern viele illegitime Kinder ihren ersten Geburtstag ein paar Monate später, als er tatsächlich wäre.«
Zum ersten Mal fragte sich Edward, wann wohl sein wirklicher Geburtstag war.
Sein Vater stand abrupt auf. »Dorothea würde wissen wollen, was mit ihrer Tochter los ist. Sie würde hier bei ihr sein wollen. Hat Olivia dir eine genauere Auskunft gegeben als ›in der Nähe von Cheltenham‹?«
Edward schüttelte den Kopf.
»Mir auch nicht. Ich frage mich, warum …«
Am nächsten Tag kam Edward gerade vom Stall zurück, nachdem er einen Ausritt mit seinem Pferd gemacht hatte, als ihn ein schriller Ruf erschreckte.
»Master Edward, kommen Sie schnell!« Mrs Hinkley stand an der Gartentür, winkte ihm aufgeregt zu und ihre Stimme klang panisch. »Es geht um Olivia. Sie wirft sich wild herum und … und redet!«
Sie hielt ihm die Tür auf, als er zu ihr schritt. Im Gehen zog er sich die Reithandschuhe von den Fingern und nahm seinen Hut ab. »Schicken Sie nach dem Arzt, Mrs Hinkley. Ich werde nach oben gehen und schauen, was ich tun kann.«
»Ja, Mylord«, antwortete sie, offensichtlich erleichtert, dass er die Verantwortung in dieser Situation übernahm.
Er warf seine Sachen auf eine Bank im Gang und hetzte die Treppe hinauf, immer drei Stufen auf einmal nehmend. Er eilte ins Krankenzimmer und schloss die Tür hinter sich. Olivias Gesicht war rot angelaufen und sie bewegte sich unruhig unter den Betttüchern und in ihrem langen Nachthemd hin und her. Ihr Mund zuckte und ihre Brauen zogen sich zusammen. Dann begann sie laut zu murmeln, obwohl ihre Augen geschlossen blieben.
»Nein! Haut ab! Edward! Edward!«
Sein Herz schlug hart gegen seine Brust. Er hatte sie noch nie seinen Vornamen aussprechen hören. Sie rief nach ihm. Zweifellos durchlebte sie die entsetzliche Szene mit den Hunden erneut.
Er trat an den Nachttisch, wrang das Wasser aus einem nassen Tuch und setzte sich auf den Stuhl neben dem Bett. Er legte eine Hand an ihre Schläfe, nahm das feuchte kühle Tuch in die andere und berührte damit sanft ihre Wangen, Lippen und die Stirn. Er murmelte: »Schhh … Es ist alles gut. Ich bin hier. Die Hunde sind weg. Du bist jetzt in Sicherheit, Olivia. Völlig in Sicherheit.«
Sie beruhigte sich fast im selben Moment. Er fuhr mit dem Tuch über ihre Nase, betupfte ihre zerkratzte Stirn und strich sanft über die heiße Haut an ihrem Hals. Schließlich legte er das Tuch in die Waschschüssel zurück und legte seine Hände um ihre zierliche Hand. Er streichelte ihre zarten Finger und redete ihr mit leiser Stimme zu. »Du wirst wieder gesund, Olivia«, sagte er und wusste, dass seine Worte nicht nur zu ihrer, sondern auch zu seiner eigenen Beruhigung dienen sollten. Er erinnerte sich an den Klang ihrer Stimme, als sie nach ihm gerufen hatte. Nicht Mylord , nicht Lord Bradley , nein, einfach nur Edward . Er sehnte sich danach, seinen Namen noch einmal von ihr zu hören, wenn sie gesund und munter war.
Als
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